Lohfink, Edathy, die Messerstecherei auf dem Oktoberfest: Außenstehende erklären den zuständigen Richtern und Staatsanwälten gerne deren Fälle – meist ohne Aktenkenntnis und vor der Beweisaufnahme. Das ist unsäglich, meint Lorenz Leitmeier.
Am Montag wurde Gina-Lisa Lohfink, die Ikone der "Nein-heißt-Nein-Bewegung", vom Amtsgericht Tiergarten wegen falscher Verdächtigung verurteilt. Zur Überzeugung des Gerichts war sie nicht Opfer einer Sexualstraftat geworden – obgleich Außenstehende davon schon lange vor Abschluss der Beweiserhebung überzeugt zu sein schienen. So hatte Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig schon in einem frühen Verfahrensstadium darauf hingewiesen, dass ein "Hör auf!" während sexueller Handlungen deutlich sei. Anders als die Richterin hatte auch Alice Schwarzer keine Zweifel daran, dass der Angeklagten sexuelle Gewalt angetan wurde, und war deshalb nach Verkündung des Urteils das, was sie am besten ist – empört. Von Frau Schwesig hingegen hört man zur Causa Lohfink nichts mehr.
Fehlurteile von Außenstehenden
Wenige Menschen maßen sich an, erfahrenen Gehirnchirurgen von einer Operation abzuraten, auf die sich der Arzt lange vorbereitet hat. Doch ein Richter oder Staatsanwalt, der einen Fall auf den Tisch bekommt, die Akte liest, noch einmal liest, Zeugen vernimmt, Videos ansieht, Gutachten studiert – der bekommt von außen gesagt, was er falsch macht, weil die Sache ganz anders liege.
Der Fall Lohfink ist hierfür nur das aktuelle Beispiel, er fügt sich ein in eine Vielzahl unsachlicher Einmischungen in laufende Verfahren: So wusste beim Prozess um die "Oktoberfest-Stecherei" die Spiegel-Reporterin Gisela Friedrichsen, dass der Richter "sichtlich entschlossen war, dem Zeugen nichts zu glauben". Skandalöserweise habe die Staatsanwältin den Zeugen abführen lassen, angeblich eine "extreme Ausnahme" in Strafverfahren. Friedrichsen schloss die Frage an: "Ist das ein faires Vorgehen?"
Wenige Tage später stellte sich heraus, dass der Zeuge 100.000 Euro für eine Falschaussage bekommen hatte. Die Reaktion von Frau Friedrichsen? Anstatt auf ihr Haupt Asche zu streuen, für die drei Zigarettenschachteln nicht reichen, schrieb sie noch im Nachhinein, die Aussage des Zeugen habe für eine Verhaftung eigentlich nicht gereicht, die Widersprüche der Aussage hätten sich im üblichen Rahmen gehalten. Nach dieser Einordnung wäre die Verhaftung nur ein Glückstreffer der Staatsanwaltschaft gewesen. Kein Wort schreibt sie dazu, dass der Richter mit seiner Skepsis Recht hatte. Dass die Staatsanwältin ihre gesetzliche Aufgabe erfüllte – kein Wort. Schlagzeilen machte erst wieder die Tatsache, dass sich der Richter bei der Urteilsbegründung über die unmöglichen Querschüsse aufregte.
2/2: Auch vor Richter-Kollegen nicht mehr sicher
Aber nicht nur Minister und Journalisten mischen sich in laufende Verfahren ein, selbst vor anderen Richtern ist man als Richter oder Staatsanwalt nicht sicher: Immer noch unerreicht ist die Intervention von Bundesrichter Thomas Fischer im Verfahren gegen den früheren SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy. Während die Staatsanwälte ermittelten, bat Fischer öffentlich um Verzeihung: "Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy!" Woher er die Akten kannte, um das Fehlverhalten der Staatsanwälte zu entdecken, weiß man nicht.
Wie man der Presse kurze Zeit später entnehmen durfte, soll im Dienstzimmer von Rechtsstaatssprecher Fischer eine Akte mehrere Monate unbearbeitet gelegen haben, sodass das Oberlandesgericht Frankfurt den Haftbefehl gegen einen Drogendealer trotz Fluchtgefahr aufheben musste. Auf die Kolumne, in der sich Fischer für eigene Versäumnisse entschuldigt, wartet man allerdings bis heute. Vielleicht sollte mal ein Kollege etwas darüber schreiben? Unbelastet von Aktenkenntnis?
Hochgefährliche Einmischung
Die Einmischung in laufende Verfahren ohne nähere Kenntnis ist aus einem Grund unsäglich, aus einem hochgefährlich: Zunächst einmal ist sie nervig und erschwert die Arbeit, weil der durchschnittliche Richter sich große Mühe gibt, seine Fälle zu lösen – und das ist im Strafrecht, zumal im Sexualstrafrecht, schwer genug.
In der Regel gibt es zwei Aussagen, die vom Angeklagten und die von der vielleicht Geschädigten. Naturgemäß widersprechen sich die Aussagen, beide Personen wurden vielleicht öfter vernommen. Doch welcher Widerspruch in der Aussage ist normal, weil niemand alltägliche Dinge genau wahrnimmt und sich daran erinnert? Welcher Widerspruch betrifft das Kerngeschehen, ist vielleicht zu stark, um die Aussage glauben zu können? Welcher Widerspruch ist durch ein Trauma erklärbar? Welche Rolle spielt das Sorgerecht für die Kinder, das beide gerne hätten? Vielleicht, oft aber auch nicht, gibt es noch Spuren.
Vielleicht gibt es sogar ein Video, auf dem eine Person "Hör auf!" sagt. Ist der Fall deshalb eindeutig? – Offensichtlich nicht. Dann kann ein "Nein" im Einzelfall halt auch einmal "Ja" bedeuten, wenn man mit dem einen die Videoaufnahmen meint, mit dem anderen den Geschlechtsverkehr.
Urteilsschelte raubt Vertrauen
Ein Richter kämpft also mit dem Verfahren, das durch Interessenpolitik von außen erschwert wird, und muss am Ende das Urteil verantworten. Die Einflüsterer, oder genauer Rumschreier wissen, wie man den Fall lösen muss – und wenn es nicht stimmt, muss man sich nur schnell genug verstecken. Verantwortung für die Fehlurteile von außen übernimmt selbstredend niemand.
Wichtiger aber ist, was Urteilsschelte noch vor dem Urteil langfristig bewirkt: Die Justiz lebt vom Vertrauen ihrer Bürger, einer "weichen" Ressource. Sie wird getragen vom Glauben der Menschen daran, dass man sich auf die Schwarzroben zumindest grundsätzlich verlassen kann. Selbstverständlich darf jeder seine Interessen vertreten – die "Sache der Frauen" betreiben, neue oder schärfere Gesetze anstreben, die Rechtsprechung verändern wollen, Beschuldigtenrechte stärken. Und selbstverständlich darf jeder Urteile und die Justiz kritisieren. Wer das aber blind tut oder konkrete Fälle instrumentalisiert, beschädigt die Dritte Gewalt, die ja immerhin Konflikte befrieden soll.
Daher ist es an der Zeit, die Rechtsprechung wieder den zuständigen Richtern zu überlassen: Dort ist sie gut aufgehoben. Denn einen Strafrechtsfall, zumal einen aus dem Sexualstrafrecht, angemessen zu lösen, ist sehr schwierig, wirklich. Einen Strafrechtsfall ohne Aktenkenntnis und ohne Beweisaufnahme zu lösen, ist unmöglich, wirklich.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München.
Dr. Lorenz Leitmeier, Einmischung in Strafverfahren: Keine Ahnung haben, aber empört sein . In: Legal Tribune Online, 26.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20401/ (abgerufen am: 06.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag