Erstmals aktiviert die EU die Massenzustromsrichtlinie, nachdem über eine Million Menschen die Ukraine verlassen haben. Daniel Thym erklärt was die Aktivierung bedeutet und warum er meint, dass der deutsche Gesetzgeber nachbessern sollte.
Der Ukraine-Krieg verändert viel. Plötzlich sind Dinge möglich, die noch vor kurzem undenkbar waren. Am gestrigen Donnerstag votierten die Innenminister der EU-Staaten einstimmig dafür, erstmals die Richtlinie 2001/55/EG zu aktivieren. Diese Richtlinie stammt bereits vom 20. Juli 2001. Sie wurde als Folge des Jugoslawien-Krieges erarbeitet – und niemals angewendet. Die Richtlinie setzt "Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten" – so ist sie überschrieben.
Nach einer letzten redaktionellen Überarbeitung soll der Durchführungsbeschluss noch in dieser Woche im Amtsblatt veröffentlicht werden. Damit betritt die deutsche und europäische Migrationspolitik rechtliches Neuland.
Die Entscheidung ist richtig, trotz einer ganzen Reihe an ungeklärten Fragen. Größter Vorteil ist der Verzicht auf langwierige Asylverfahren. Das verhindert eine Überlastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wie vor sechs Jahren. Stattdessen können sich die Behörden darauf konzentrieren, die Menschen zu versorgen – in Deutschland ebenso wie in den Ländern Osteuropas, die gar nicht genügend Ressourcen hätten, um hunderttausende Asylverfahren durchzuführen.
UNHCR geht von bis zu vier Millionen Flüchtlingen aus
Dieser Pragmatismus ist daher angezeigt. UNHCR schätzt, dass ungefähr vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer das Land bis Juli verlassen haben werden. Die allermeisten werden in die EU kommen, wobei die genaue Zahl vom Kriegsverlauf abhängt. Je länger und intensiver die Kämpfe sind, desto mehr Menschen werden fliehen. Die jüngste Entscheidung, humanitäre Korridore einzurichten, wird die Ausreise noch beschleunigen.
Mit dem Ratsbeschluss sichert die EU all diesen Menschen eine sichere Aufnahme zu, ohne dass es eine Höchstgrenze gäbe. Die EU heißt alle Ukrainerinnen und Ukrainer willkommen. Das ist ein wichtiger Unterschied zu 2015. Damals hatte man die Richtlinie auch deshalb nicht aktiviert, weil kein Konsens bestand, dass alle Syrerinnen und Syrer nach Europa kommen sollen. Vielmehr sollten viele in der Türkei bleiben. Beim Ukrainekrieg ist das nicht möglich, denn nun sind die EU-Staaten selbst die Erstaufnahmeländer. Diesen Unterschied übersieht, wer die neue Großzügigkeit als Rassismus brandmarkt.
Freie Wahl des Ziellandes statt verpflichtende Verteilungsquoten
Von dem seit Jahren andauernden Streit der EU-Länder über eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge ist derzeit nichts zu spüren. Allseits herrscht große Solidarität, auch in Osteuropa. Allerdings dürfte die Verteilungsfrage angesichts der hohen Zahlen schon bald auf die politische Agenda zurückkehren. In seinem aktuellen Beschluss umgeht der Rat sie elegant. Wenn die Kommission vollmundig eine "Solidaritätsplattform" verspricht, sind das nicht viel mehr als schöne Worte. Es handelt sich um einen unverbindlichen Koordinationsmechanismus.
Quoten oder Aufnahmezusagen einzelner Länder sucht man im Durchführungsbeschluss vergebens. Stattdessen läuft alles darauf hinaus, dass sich die Menschen selbst auf die EU-Länder verteilen. Aus geographischen, sprachlichen und familiären Gründen sind das zuerst einmal die Länder in Osteuropa. Doch angesichts der Zahl von 150.000 bis 200.000 Grenzübertritten pro Tag, dürfte es nur eine Frage von Tagen sein, bis auch in Deutschland deutlich mehr Menschen ankommen.
Rechtliche Zweifel an der freien Wahl des Ziellandes bestehen nur am Rande. Ukrainerinnen und Ukrainer mit biometrischen Pässen besitzen Visafreiheit in der gesamten EU, und bei Menschen ohne Pass empfiehlt die Kommission eine Ausnahme aus humanitären Gründen. Offiziell gelten solche Ausnahmen zwar nur für die Einreise in und die Aufnahme durch ein EU-Land, aber aktuell nimmt das niemand so genau.
Kurzes Aufnahmeverfahren in Deutschland
Nach der Ankunft in Deutschland soll alles ganz schnell gehen. Nach § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wird allen Personen, die der Richtlinie unterfallen, eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt. Geprüft wird nur, ob die betroffenen Menschen die ukrainische Staatsangehörigkeit haben oder als Ausländer in der Ukraine lebten und nicht in die Heimat zurückkehren können. Der Durchführungsbeschluss gibt den EU-Staaten die Möglichkeit, auch Studierende aus afrikanischen Ländern zu erfassen, die in den vergangenen Tagen manchmal nicht in die EU-Länder eingelassen wurden. Weitere Kriterien werden nicht geprüft, nur bei Sicherheitsgefahren oder Kriegsverbrechern besteht eine Ausnahme.
Zuständig sind die Ausländerbehörden der Länder, nicht das BAMF. Eventuelle Asylanträge von Ukrainerinnen und Ukrainern ändern daran nichts, denn das Verfahren wird für die Dauer des temporären Schutzes nach § 32a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) ausgesetzt. Das deutsche Recht verlangt hierbei, dass die Person der Aufnahme in Deutschland zustimmen muss – und bestätigt damit die freie Wahl des Ziellandes. Die Dublin-Regeln finden keine Anwendung: entweder weil kein Asylantrag vorliegt oder die Verfahrensaussetzung bewirkt, dass die Zuständigkeit auf Deutschland übergeht.
Menschen aus der Ukraine dürfen in der EU arbeiten
Gemäß Art. 12 Massenzustromsrichtlinie dürfen die Menschen aus der Ukraine in der EU arbeiten, Fortbildungen machen oder Praktika absolvieren. § 24 Abs. 6 AufenthG spricht zwar davon, dass die Behörden frei darüber entscheiden, ob eine Erwerbstätigkeit erlaubt wird oder nicht. Diese Norm widerspricht jedoch der Richtlinie und darf daher nicht angewandt werden. Deutschland könnte lediglich eine Vorrangprüfung durchführen, also prüfen, ob für den konkreten Arbeitsplatz bevorrechtigte inländische oder ihnen gleichgestellte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Ausländerbehörden die Erwerbstätigkeit erlauben.
Schon mit dem Krimkrieg kamen viele Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen und in andere Nachbarländer. Sehr viele erhielten dort zwar nie einen asylrechtlichen Schutzstatus, arbeiteten aber dennoch in verschiedenen Berufen. So könnte es auch in Deutschland kommen. Für viele dürfte der temporäre Schutz nur ein Durchgangsstadium sein, bevor eine reguläre Aufenthaltserlaubnis zur Erwerbstätigkeit erteilt wird.
Der Arbeitsmarkt und die Ausbildungsstandards in der Ukraine sind viel eher mit der hiesigen Situation vergleichbar als bei den klassischen Asylherkunftsländern. Das dürfte dazu führen, dass mehr Personen schnell auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterkommen. Rechtliche Hindernisse hierfür gibt es nicht. Eine Titelerteilungssperre gilt nur, wenn ein Asylantrag gestellt wurde. Beim vorübergehenden Schutz nach der Massenzustromsrichtlinie ist das typischerweise nicht der Fall.
Keine Pflicht zum Wohnen in Aufnahmeeinrichtung
Großzügig sind die Richtlinie und das deutsche Recht beim Familiennachzug. Alle Mitglieder der Kernfamilie dürfen ohne Einschränkung nachziehen, und selbst sonstige enge Verwandte können berücksichtigt werden, wenn sie finanziell von jemandem abhängig sind, der schon hier lebt. Die gesamte Familie bekommt dann Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das nach § 1 Abs. 3 Buchst. a für temporär Schutzberechtigte gilt.
Rechtspolitisch ist das durchaus heikel, denn damit bekommen Ukrainerinnen und Ukrainer weniger als Syrerinnen und Syrer, deren Asylverfahren erfolgreich abgeschlossen wurde. Neben Geldleistungen bedeutet das vor allem eine Krankenversorgung, die jedoch prinzipiell auf eine Notfallversorgung beschränkt ist. Die Ampelkoalition sollte hier eine Gesetzesänderung erwägen, um die regulären Sozialleistungen anzuwenden.
Ebenso wie Asylbewerber werden auch temporär Schutzberechtigte nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. In den Ländern erfolgt dann eine weitere Verteilung auf die Kommunen, die nach § 24 Abs. 5 AufenthG mit einer Wohnsitzauflage verbunden ist. Im Rahmen der Möglichkeiten kann dort sofort eine Privatwohnung bezogen werden, weil keine Pflicht besteht, in einer zentralen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Das ist vor allem für diejenigen wichtig, die hier Freunde und Familie haben. Bei allen anderen wird man mit steigenden Zahlen über jede verfügbare Unterkunft froh sein.
Verteilungsfrage innerhalb der EU dürfte zurückkehren
Die europäischen Regeln für Sozialleistungen, Wohnung und Gesundheit sind sehr abstrakt – und entsprechend vielfältig dürften die nationalen Praktiken sein. Schon bald dürften die Aufnahmekapazitäten trotz der bewundernswerten Solidaritätswelle mancherorts erschöpft sein. Damit könnte mittelfristig ein Phänomen eintreten, das wir von früheren Fluchtbewegungen kennen. Anfangs bleiben die Menschen in der Nähe der Heimat. Wenn die Rückkehr dorthin sich jedoch hinzieht und die wirtschaftliche Situation schwierig ist, ziehen sich häufig weiter.
Dann könnten die im europäischen Vergleich großzügigen deutschen Aufnahmestandards und die gute Arbeitsmarktlage zwei Faktoren sein, warum schrittweise immer mehr Menschen nach Deutschland kommen. Daneben werden familiäre und persönliche Kontakte wichtige Faktoren sein, wohin die Menschen gehen. Solche Beziehungen bestehen vor allem nach Osteuropa, Spanien, Italien und auch Portugal, gefolgt von Deutschland. Eine solche "Sekundärmigration" könnte früher oder später zu Debatten führen. Offiziell muss ein Land alle Menschen zurücknehmen, denen es temporären Schutz gewährte. Es gibt keine freie Weiterreise nach der Schutzgewährung.
Für Rückstellungen nach einer Sekundärmigration verweist Art. 11 der Richtlinie jedoch auf das nationale Recht und zwischenstaatliche Absprachen. Das dürfte in der Praxis schlecht funktionieren. Außerdem verständigten sich der Innenministerrat auf eine Erklärung, wonach die Mitgliedstaaten derzeit die Rückstellungsoption nicht einseitig anwenden werden. Europapolitisch ist das bemerkenswert. Nach Jahren der heftigen Debatten über die Verantwortungsteilung innerhalb der EU verständigen sich die Mitgliedstaaten einstimmig auf ein Modell, dass den betroffenen Personen letztlich die freie Wahl des Ziellandes ermöglicht.
Prof. Dr. Daniel Thym ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz.
Schneller Schutz für Kriegsflüchtlinge: . In: Legal Tribune Online, 04.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47725 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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