Das neue Kommunalwahlgesetz NRW enthält eine neue Sitzzuteilungsregel, die systematisch größere Parteien begünstigt. Verfassungsrechtlich ist dies nicht unbedenklich, meint Sebastian Roßner.
Das Wohl der Demokratien hänge von "einem geringfügigen technischen Detail ab, dem Wahlverfahren", meinte der spanische Philosoph Ortega y Gasset 1929 in "La rebelión de las masas". Das mag überspitzt sein, aber jedenfalls beeinflusst das Wahlrecht wesentlich die Verteilung staatlicher Macht. Und weil es in den Händen der jeweils aktuellen parlamentarischen Mehrheit liegt, ist die Versuchung groß, zum eigenen Nutzen an den wahlrechtlichen Stellschrauben zu drehen.
Auch der nordrhein-westfälische Gesetzgeber ließ sich verführen und fügte in den Entwurf zur Novellierung des Kommunalwahlgesetzes NRW (KommWG NRW) einen Änderungsantrag zu dessen § 33 Abs. 2 ein (LT-DrS 18/9089, Antragsteller waren die Fraktionen CDU, SPD und Grüne). Den Antrag hat der Landtag angenommen. § 33 KommWG NRW regelt die Sitzzuteilung, also das Verfahren, mittels dessen die Zahl der von einer Partei oder Wählergruppe erzielten Stimmen in die Zahl der in der Kommunalvertretung gewonnenen Sitze umgerechnet wird. Das ist genau so ein technisches Detail, von dem Ortega y Gasset sprach, denn es wird in Zukunft größere Parteien bei der Sitzzuteilung begünstigen.
Das Problem: Fast nie sind alle Sitze perfekt verteilt
Die bisherige Fassung von § 33 Abs. 2 KommWG NRW sah eine eine Sitzzuteilung nach dem bekannten Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers vor. Dieses System wird zum Beispiel nach § 5 Abs. 2 Bundeswahlgesetz auch für die Bundestagswahlen verwendet. Jetzt hat der Landesgesetzgeber NRW für die Kommunalvertretungen ein neues Berechnungsverfahren beschlossen, das größere Parteien bevorzugt, ohne als Ausgleich dafür wesentliche sonstige Vorzüge aufzuweisen.
§ 33 Abs. 2 KommWG 2024 sieht im Wesentlichen zwei Berechnungsschritte vor. Im ersten Schritt wird für jede Partei ein Idealanspruch berechnet, indem der Stimmanteil der Partei mit der Gremiengröße multipliziert wird, also der Zahl der im jeweiligen Kommunalparlament zu vergebenden Sitze. Erhält also Partei A bei einer Stadtratsgröße von 50 Sitzen 20 Prozent der Stimmen, ergibt dies einen Idealanspruch von 0,2 x 50 Sitze = zehn Sitze.
Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass alle Parteien einen ganzzahligen Idealanspruch erzielen. Gewinnt etwa die Partei A im obigen Beispiel nur 17 Prozent der Stimmen, beträgt ihr Idealanspruch 0,17 x 50 = 8,5 Sitze. Der abgerundete Idealanspruch von acht Sitzen ist der Partei nach § 33 Abs. 2 2024 mindestens sicher, aber der verbleibende Bruchteilsrest von 0,5 muss rechnerisch weiterverarbeitet werden, da es in einem Parlament nur ganze Sitze gibt. Es geht also um die Verteilung jener "Restsitze" im Parlament, die nicht bereits über die ganzzahligen Bestandteile der Idealansprüche der Parteien zugeteilt werden konnten.
Neue Berechnungsmethode bevorzugt größere Parteien
Vor diesem Verteilungsproblem stehen alle Sitzzuteilungsverfahren. Im bisherigen Divisorverfahren mit Standardrundung nach § 33 KommWG a.F. wird der (etwas anderes berechnete) Idealanspruch auf die nächstgrößere ganze Zahl aufgerundet, falls der Bruchteilsrest 0,5 oder größer ist. Ansonsten wird auf die darunterliegende Ganzzahl abgerundet. Der Vorteil dabei: Die unvermeidliche Rundung begünstigt oder benachteiligt alle Parteien zufällig und unabhängig von ihrer Größe. Man spricht beim Divisorverfahren mit Standardrundung daher von einem unverzerrten Sitzzuteilungsverfahren: Die Gefahr, unter "Rundungspech" zu leiden, entspricht der Chance, umgekehrt von "Rundungsglück" zu profitieren.
Das neue Verfahren nach § 33 Abs. 2 KommWG NRW 2024 wählt jedoch einen anderen Weg. Dabei wird für alle Parteien der ungerundete Idealanspruch durch den auf die nächste Ganzzahl aufgerundeten Idealanspruch geteilt. Die Parteien mit den höchsten daraus resultierenden Quotienten erhalten die noch nicht verteilten Restsitze. Dies kann zu überraschenden Ergebnissen führen.
Ein Beispiel: Ist in einem Rat noch ein Restsitz zu verteilen und hat Partei A einen Idealanspruch von 1,9 Sitzen und Partei B einen Idealanspruch von 18,1 Sitzen, so erhält Partei B den Restsitz, denn der Quotient für A (1,9 / 2 = 0,95) ist kleiner als der für Partei B (18,1 / 19 = 0,9526). Dieses Beispiel ist auch kein statistischer Ausreiße. Vielmehr verzerrt die neue Berechnungsart die Sitzverteilung, indem sie systematisch Parteien mit größerem Wahlerfolg begünstigt.
Das liegt daran, dass die Partei, bei der Quotient dem Wert von 1 am nächsten kommt, den Restsitz erhält. Dabei nähert sich der Quotient 1 an, je größer der Zähler und der auf die nächste ganze Zahl aufgerundete Nenner werden. Zugleich wird der Einfluss des Bruchbestandteils im Zähler auf das Maß der Annäherung an 1 dabei geringer. Mit anderen Worten: Je mehr Stimmen eine Partei erhält, desto größer ist ihre Chance, bei der Verteilung der Reststimmen berücksichtigt zu werden.
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Jeder Prozentpunkt ein Vorteil für große Parteien
Um dies zu demonstrieren, mindern wir den Idealanspruch von Partei B (die "Größe" der Partei) im Folgenden stufenweise jeweils um eins. Hat Partei B im obigen Beispiel nur einen Idealanspruch von 17,1, so beträgt der Quotient 17,1 / 18 = 0,95, ist also nur noch ebenso groß wie der von Partei A. Gemäß § 33 Abs. 2 S. 6 KommWG 2024 muss dann das Los über die Vergabe des Restsitzes entscheiden.
Wird der Idealanspruch von Partei B weiter vermindert, so erhält Partei A den Restsitz, denn der Quotient von Partei B 16,1 / 17 = 0,9471 ist dann kleiner als der von Partei A in Höhe von 0,95.
Diese systematische Bevorzugung größerer Parteien (und somit auch von deren Wählern) begründet der Änderungsantrag damit, die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen – damit ist das Verhältnis zwischen erzielten Sitzen und dem (ungerundeten) Idealanspruch gemeint, welches idealerweise 1 beträgt – verbessern zu wollen (LT-DrS 9089, S. 3). Demonstrieren kann der Entwurf eine solche Verbesserung aber nicht.
Die Krux mit dem "Wert der Wählerstimme"
Im Antrag werden nämlich beispielhaft zwei Parteien gegenübergestellt, von denen die kleinere einen Idealanspruch von 0,55, die größere von 19,3 Sitzen hat. Nach dem bisherigen Sitzzuteilungsverfahren erhielte die erste Partei durch Aufrundung einen Sitz, die zweite durch Abrundung 19 Sitze. Der Erfolgswert der Wählerstimmen der kleineren Partei betrüge 1 / 0,55 = 1,82, derjenige der größeren 19 / 19,3 = 0,98. Nach dem neuen Sitzzuteilungsverfahren erhält die kleinere Partei keinen Sitz mehr, die größere 20 Sitze.
Der Erfolgswert der Wählerstimmen der größeren Partei verändert sich damit von 0,98 auf 1,04. Dies sei eher hinzunehmen, als dass die kleinere Partei mit einem Erfolgswert von nur 0,55 einen ganzen Sitz erhält. Dieses Argument trägt nicht: Der Erfolgswert der kleineren Partei verschlechtert sich von 1,82 auf 0. Auch der Erfolgswert der größeren Partei weicht nun etwas weiter von 1 ab. In dem im Gesetzentwurf gewählten Beispiel vermindert das neue Verfahren die Ungleichheit zwischen den Erfolgswerten nicht, sondern vergrößert sie, und zwar für beide Parteien.*
Haben wir damit ein verfassungsrechtliches Problem?
Ob diese Defizite des neuen Sitzzuteilungsverfahrens einen verfassungsrechtlich relevanten Fehler darstellen, hätte der Verfassungsgerichtshof NRW (VerfGH NRW) zu entscheiden, wenn man ihn anriefe. Das könnten betroffene Parteien und Wählergruppen etwa im Rahmen eines Organstreitverfahrens tun. Maßstäbe für eine Entscheidung wären der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, der auch verlangt, dass jeder Partei und ihren Kandidaten gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden, sowie der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der u.a. garantiert, dass jede Wählerstimme die gleiche rechtliche Erfolgschance hat, die Zusammensetzung des gewählten Gremiums zu beeinflussen.
Ob der VerfGH NRW diese Grundsätze als verletzt ansehen würde, lässt sich nicht sicher prognostizieren. Einerseits billigen die Verfassungsgerichte dem Gesetzgeber einen Spielraum bei der Auswahl des Sitzzuteilungsverfahrens zu, andererseits sollen Veränderungen in etablierten Verfahren nur zulässig sein, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt (VerfGH NRW, Urt. v. 16.12.2008). Rosinenpickerei des Gesetzgebers zum Nutzen der eigenen Parteien soll so verhindert werden.
Ob mit dem neuen Sitzzuteilungsverfahren ein etabliertes Verfahren in rechtfertigungsbedürftiger Weise modifiziert wird, wäre vom Gericht zu prüfen. Dafür spricht immerhin, dass der erste Berechnungsschritt dem bekannten Quotenverfahren nach Hare/Niemeyer entspricht, während der zweite Schritt, in dem es um die kritische Zuteilung der Restsitze geht, relevant zum Vorteil der größeren Parteien von diesem Verfahren abweicht.
Sollte der VerfGH NRW deshalb in eine Rechtfertigungsprüfung einsteigen, könnte es für die neue Regelung eng werden, zu deren Gunsten ihre Schöpfer bisher wenig Substantielles vorgetragen haben.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR Rechtsanwälte in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
*Absatz geändert wegen Zahlendrehers, Red. 22.07.2024, 10.52h
NRW-Landtag ändert Kommunalwahlgesetz: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55003 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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