90 Prozent des kulturellen Erbes Afrikas sollen in Europa lagern. Ein Gutachten schlägt vor, im Zweifel alles zurückzugeben. Matthias Weller würde lieber Fallgruppen und Rechtsfolgen entwickeln. Gerechtigkeit brauche auch Juristen.
LTO: Ein im Auftrag von Emmanuel Macron erstattetes Gutachten zur Rückgabe von Kunst- und Kulturobjekten aus der Kolonialzeit sorgt derzeit für Aufsehen. Zugespitzt lautet der Vorschlag: im Zweifel alles zurückgeben. Ist das auch ein Ansatz für Deutschland?
Prof. Dr. Matthias Weller: Das Gutachten geht mit seinen Forderungen aus kulturpolitischen Gründen sehr weit. Das Verhältnis Frankreichs zu seinen ehemaligen Kolonien ist heute noch sehr gegenwärtig, das Thema hat dort eine starke gesellschaftliche Präsenz. Deshalb überrascht es nicht, dass der Vorstoß nun aus Frankreich kommt.
Solche Maximalforderungen gibt es seit dem Ende der Kolonialzeit, also etwa seit den 1960-er Jahren in vielen europäischen Staaten – sie sind nur bislang nie gehört worden. Jetzt gibt es möglicherweise einen politischen Durchbruch aus Frankreich und der könnte sich auch nach Großbritannien, Belgien und Deutschland ausdehnen.
Kulturpolitiker, Sammler und Museen sind in Aufregung, über welche Größenordnung reden wir denn bei den Objekten in Europa?
Nach Schätzungen befindet sich weit über 90 Prozent des gesamten kulturellen Erbes Afrikas in europäischen bzw. "westlichen" Museen, es handelt sich sicher um viele hunderttausend Stücke. Vieles davon lagert in Depots der Museen, nicht wenige Stücke sind Alltagsgegenstände, andere sind Kultgegenstände, zum Teil geht es auch um menschliche sterbliche Überreste.
"Die Aufgabe der Juristen: Gerechtigkeit durch Differenzierung"
Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat mit Blick auf das französische Gutachten "markante Schritte" auch in Deutschland angekündigt – wie könnten die aussehen?
Aus meiner Sicht stellt eine pauschale Rückgabe sogar eine eher schwache Lösung dar. Es müssen vielmehr Schritte entwickelt werden, die die Geschichtsaufarbeitung ermöglichen. Wenn Deutschland einen differenzierten Kriterienkatalog entwickeln würde mit konkreten Rechtsfolgen, dann müsste man sich in jedem Einzelfall viel genauer mit der Geschichte der Objekte beschäftigen. Das ist der juristische Hebel zur geschichtlichen Aufarbeitung.
Es gibt einen juristischen Hebel in der Diskussion um die Restitution?
Bei Fragen der Restitution spielt das geltende Recht quasi überhaupt keine Rolle. Das liegt daran, dass die Zeiträume, um die es geht, bis ins 19. Jahrhundert zurückliegen. Hinzu kommt, dass - anders als bei Raubkunst aus der Zeit des Nationalsozialismus - im kolonialen Kontext nur selten Akten geführt wurden. Damit fehlt es an Dokumentation. Dadurch rücken viel stärker allgemeine Gerechtigkeitsfragen in den Vordergrund. Kunsthistoriker, Kunstwissenschaftler und Ethnologen engagieren sich zu dem Thema sehr, die Juristen bislang zu wenig.
Woran könnten die Juristen denn anknüpfen?
Für den Umgang mit NS-Raubkunst gibt es im Völkerrecht seit 20 Jahren die Washingtoner Prinzipien. Dabei handelt es sich um sog. "soft law", also nicht verbindliche Übereinkünfte.
Beim kolonialen Unrecht fehlt es bisher an vergleichbaren Vorgaben. Man müsste sich also auch hier auf leitende Prinzipien verständigen. Dazu müsste man die verschiedenen Unrechtskonstellationen erfassen und darauf jeweils angemessen reagieren. Für die NS-Raubkunst gibt es mittlerweile zahlreiche Einzelentscheidungen.
Aufgabe der Rechtswissenschaft könnte es in diesem Kontext sein, einen Katalog aller bislang dazu entschiedenen Fälle zu erarbeiten und daraus weitere Entscheidungskriterien zu destillieren. Für beide Unrechtskontexte gilt: In der Differenzierung liegt die Gerechtigkeit. Im kolonialen Kontext stehen wir da natürlich noch ganz am Anfang.
"Nur ein unabhängiges Gremium kann Legitimität gewinnen"
Aber je intensiver man sich mit dem Einzelfall beschäftigt, umso länger dürfte es auch dauern, bis Objekte tatsächlich zurückgegeben werden?
Natürlich darf die gewissenhafte Beschäftigung nicht dazu führen, dass eine Rückgabe gehemmt wird. Das würde "alte" Machtverhältnisse nur wieder reproduzieren.
Eine strikte Vermutungsregel in dubio pro Rückgabe führt aber auch nicht weiter. Wenn von den Museen verlangt wird, entweder die rechtmäßige Herkunft lückenlos nachzuweisen oder das Objekt zurückzugeben, dann wird es ihnen aufgrund der schlechten Dokumentationslage kaum gelingen, den Gegenbeweis zu führen.
Vor welchem Entscheidungsgremium denn überhaupt?
Das ist natürlich eine schwierige Frage, nationale Gerichte werden das nicht übernehmen können. Wir bräuchten eine Art Restitutionspanel, also eine Expertengruppe aus Richtern, Rechtswissenschaftlern, Ethikern, Kunsthistorikern, Historikern und Politikern – und zwar paritätisch besetzt mit Mitgliedern aus europäischen und afrikanischen Ländern. Es ist entscheidend, dass dieses Gremium ausgewogen und unabhängig besetzt wird, nur dann kann es Legitimität gewinnen.
Vergleichbare Gremien zur NS-Raubkunst haben in der Vergangenheit einen hohen Grad an Anerkennung erreicht, zum Beispiel die "Beratende Kommission" in Deutschland unter Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, das Spoliation Advisory Panel in England oder die Restitutionskommission in den Niederlanden, jeweils ebenfalls mit höchstrangigen ehemaligen Richtern besetzt.
Frankreich will in einem ersten Schritt nun vorab 26 Objekte zurückgeben.
Das Zurückgeben von Objekten hat immer eine stark juristische Konnotation. Die Aufarbeitung der Unrechtsgeschichte früherer Täterstaaten, einschließlich der BRD bzw. damals dem Deutschen Reich, muss darüber aber hinausgehen. Wir müssen eine regelrechte, interdisziplinäre und transkontinentale "Restitutionskultur" entwickeln.
Prof. Dr. Matthias Weller, Mag.rer.publ., ist Inhaber der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Professur für Bürgerliches Recht, Kunst- und Kulturgutschutzrecht und Direktor des Instituts für deutsches und internationales Zivilverfahrensrecht an der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität Bonn.
Kulturgutschutzrechtler zu Kolonialkunst in Europa: . In: Legal Tribune Online, 09.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33097 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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