Weil sie Geheiminformationen zum Ukraine-Krieg an Russland verraten haben sollen, stehen ein BND-Mitarbeiter und ein Diamantenhändler vor Gericht. Der mutmaßliche Komplize sagte nun stundenlang aus und belastete den BND-Mann schwer.
Die Welt von Arthur E. ist zusammengeschrumpft. Sie umfasst eine Zelle in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit, zweimal in der Woche fährt man ihn zum Kammergericht (KG). Dort bringen ihn Justizbeamte in Handschellen aus einem Untergeschoss über eine Treppe in den Gerichtsaal 145a. Verhandlungstag für Verhandlungstag sitzt er dort in einem gesicherten Glaskasten. Das ist sein abgesteckter Raum in der Außenwelt.
Diese Woche durfte er ihn zum ersten Mal verlassen. Denn E. will sprechen, seine Version dieser Geschichte erzählen, die wie ein Spionagethriller klingt. Zusammen mit dem Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) Carsten L. soll er während des Ukraine-Kriegs Staatsgeheimnisse des BND an Russland verraten haben. Die Bundesanwaltschaft wirft den beiden deutschen Staatsbürgern Landesverrat vor – und zwar in besonders schweren Fällen. Es ist einer der größten Spionageprozesse und ein sensibler Vorfall für Deutschland. Damit E. dem Senat seine Sicht der Dinge erzählen kann, darf er einen besonderen Platz im Gerichtssaal einnehmen.
E. kommt aus dem Glaskasten, schwarzes Shirt, schwarze Sneaker, eine Dokumentenmappe unter dem Arm. In der Hand einen blauen Kugelschreiber – das gleiche Modell, das auch die Journalisten und Besucher vor Betreten aus Sicherheitsgründen vom Gericht gestellt bekommen. E. nimmt in der Mitte des Saals Platz, an einem kleinen Tisch vor einem Mikrofon. Er darf dort sitzen, wo sonst die Zeugen sitzen. Es ist ein Detail, das bedeutsam ist.
Denn es bleibt ein Bild im Kopf: Der eine Angeklagte rückt auf den Zeugenplatz, der andere bleibt in der Angeklagtenbox. Und gleich zweimal unterläuft dem Vorsitzenden Richter Detlev Schmidt dann auch das Versehen, er spricht E. mit "Zeuge" an, verbessert sich aber jeweils schnell.
Vom bayerischen Sportfest am Vatertag über Dubai nach Moskau
Wenn E. "den Carsten" erwähnt, dann schaut und deutet er in die Richtung, wo L. in seinem Glaskasten sitzt. Der schaut zur Richterbank oder auf seine Unterlagen vor sich. Mutmaßlich soll L., der ebenfalls in der JVA Moabit in Untersuchungshaft sitzt, versucht haben, E. zum Schweigen zu überreden. In der JVA wurde ein Brief gefunden. "Es gibt außer deiner Aussage nur Hinweise", soll darin stehen.
Aber E. hat sich entschlossen, er will erzählen. Sein erster Satz: "Bevor wir zur Sache kommen…" – und damit setzt er den Ton für die nächsten Stunden. Ruhig, unaufgeregt, selbstbewusst. Nachdem er einen Satz beendet hat, macht er lange Pausen, wartet bis auf der Richterbank mitgeschrieben wird. Er spricht mit fester Stimme frei, liest nichts ab, geradezu unbeteiligt redet er. Als sei er gar nicht selbst angeklagt.
Einmal zögert er dann doch. Es geht um ein Treffen mit L. und einem weiteren BND-Mitarbeiter in einem bayerischen Restaurant in Berlin, danach sei man weiter gezogen in eine "Spielbank". E. hält kurz inne und bespricht sich leise mit seinem Anwalt Giuseppe Olivo. Schließlich sagt er: "Dann waren wir noch im Artemis." Das Artemis ist ein großes Bordell im Westen Berlins. "Aber nicht lange", sagt E. Beim BND soll E. laut Medienberichten den Decknamen "Puffotter" erhalten haben.
Wenn E. aus den Jahren 2021 und 2022 erzählt, dann klingt es nach dem Leben eines Mannes, der ständig unterwegs ist. Einer, der bei Verabredungen aufpassen muss, noch den nächsten Flieger zu erwischen. Er pendelt zwischen dem afrikanischen Kontinent und Russland, zwischen Dubai, Monaco und Miami. Seit mehr als einem Jahr sitzt er in Untersuchungshaft und ist zum Stillstand gezwungen. Aber er kann jetzt im Gerichtssaal noch einmal alles ausbreiten, es ist Stoff für eine Verfilmung: Vom zufälligen Kennenlernen mit dem BND-Mann L. auf einem Vatertags-Sportfest 2021 in der bayerischen Provinz, von einem russischen Geschäftsmann, der eine deutsche Aufenthaltserlaubnis braucht und mit dem Diamantenhändler E. das nächste große Ding in Afrika drehen will. Von abfotografierten Geheimdokumenten, von einem Treffen mit Agenten des russischen Inlandsgeheimdienst FSB in einem Restaurant in Moskau bis hin zu seinem Auffliegen während einer USA-Reise, als ihn angeblich FBI und CIA verhörten, bevor sie ihn nach Deutschland zurückschickten.
Mit einer zentralen Aussage belastet E. den L. schwer: Zunächst sei es nur darum gegangen, dass L. seinem russischen Geschäftsfreund mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland hilft. Die Männer hätten sich gut verstanden, wollten sich gegenseitig helfen, "die deutsch-russische Freundschaft ankurbeln". Irgendwann habe L. ihn dann angerufen und gesagt: "Ich habe was für Russland", so behauptet es E. jedenfalls. Warum L. aber dem E. und seinen russischen Kontakten etwas anbieten will, wo die doch eigentlich etwas von ihm wollen, das bleibt am letzten Verhandlungstag dieser Woche unaufgeklärt.
"Und jetzt bin ich hier"
So unaufgeregt E. in dieser Woche an zwei Tagen erzählt, so unaufgeregt will er auch von einem Geheimdienstkontakt in den nächsten geschlüpft sein. Zuerst soll er dem BND angeboten haben, seine Kontakte in Afrika für den Dienst einzusetzen. Der deutsche Auslandsnachrichtendienst soll E. überprüft haben und ihm auch schon einen Kontaktbeamten zugeordnet haben. Dessen Namen hat E. im Prozess parat. E. sollte nach eigener Aussage eine "NDV" werden, wie er selbstverständlich erzählt. NDV steht im Nachrichtendienstjargon für "Nachrichtendienstliche Verbindung", also eine Privatperson, die mit dem BND zusammenarbeitet.
Parallel zu seiner Anbahnung beim BND ist er mit abfotografierten BND-Dokumenten auf dem Weg nach Moskau. Dort vermittelt sein russischer Geschäftsfreund Treffen mit zwei Männern, sie sollen sich "Gassan" und "Pawel" nennen. Bei einem Treffen im VIP-Bereich eines Restaurants will E. die beiden gefragt haben, für wen sie arbeiteten. Die Antwort: "Was denkst Du?" Dann hätten sie ihm gesagt, sie arbeiteten für den FSB. Von dem mitgebrachten Material seien die nicht sonderlich beeindruckt gewesen, so E. Dafür wollten sie unbedingt erfahren, von wem die Informationen aus dem BND stammen. E. will das nicht verraten haben. Der FSB soll nicht lockergelassen haben. Am Tisch im Restaurant habe "Pawel" dem E. erst zu verstehen gegeben, dass der FSB alles über ihn und seine Familie in Russland wisse – und ihm dazu beiläufig eine Waffe in einer Aktentasche gezeigt. Für E. ganz klar "Psychospielchen". Trotzdem wird ihm wohl doch mulmig und er überlegt, wie er die Russen bei Laune halten kann, die immer wieder bei ihm nach der Quelle fragen.
Damit nicht genug: Als er schließlich auf einer Reise in die USA von den US-Behörden festgehalten und befragt wird, soll er sich FBI und wohl auch CIA anvertraut haben. "Und jetzt bin ich hier", sagt E. am Donnerstag vor dem KG. Das Ende einer wundersamen Reise durch die Welt der Geheimdienste.
E. will wohl auch an kommenden Verhandlungstagen weiter auspacken. Nach der ersten Befragungsrunde durch den Vorsitzenden Richter Schmidt scheinen noch viele Fragen offen. Warum hat sich E. auf das riskante Spiel eingelassen? Wann dämmerte ihm, dass er etwas wirklich Heikles unternahm? Was hielt er selbst von den Geheiminformationen, die er transportiert haben soll? Was glaubte E., was ihm das alles bringen würde? Wusste er nicht, dass er Briefumschläge mit knapp einer Million Euro von den mutmaßlichen FSB-Männern mitnahm?
Als der Vorsitzende Richter Schmidt am Donnerstagmittag den Verhandlungstag beendet, scheint es kurz so, als habe man E. vergessen. Der sitzt noch etwas verloren am Zeugentisch im Gerichtssaal. Das Mikrofon ausgeschaltet, die Hände ohne Handschellen auf dem Tisch. Dann löst sich der Moment auf und Justizbeamte führen ihn zurück in den Glaskomplex. Die Tür schließt sich wieder hinter ihm.
BND-Spionageprozess vor dem KG: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53617 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag