Gehackte E-Mails, Isolationshaft in dreckigen Zellen, ein Auftrag des Scheichs: Wie ein Ex-Polizist in London zum Top-Jurist aufstieg – und sich nun mit heftigen Vorwürfen konfrontiert sieht. Wie weit ging der Anwalt für den eigenen Erfolg?
Das luxuriöse Anwesen Hunters Farm liegt rund 45 Minuten Fahrtzeit von London entfernt, eine 20.000 Quadratmeter große Gutshofanlage aus dem 18. Jahrhundert, gelegen in einer malerischen Landschaft. Auf dem Gelände befindet sich eine Pferdemanege, ein Park, ein Swimmingpool, drumherum die grünen Hügel von East Sussex. Für umgerechnet 4.3 Millionen Euro steht es heute zum Verkauf. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere gehörte es dem Großkanzleianwalt Neil Gerrard, Leiter der Abteilung Wirtschaftskriminalität bei der internationalen Kanzlei Dechert in London. Am Ende seiner Karriere wird er das Haus und viel Geld verloren haben. In kostspieligen Gerichtsverfahren holen ihn massive Vorwürfe ein. Die Frage lautet: Hat der einstige rising star der Londoner Wirtschaftsverteidigerszene Grenzen überschritten, bis hin zu Folter?
Von den Straßen Süd Londons in die Großkanzlei
Neil Gerrard hat beeindruckend wie ungewöhnlich Karriere gemacht. Angefangen hat er in den 1980er Jahren als Polizist in Süd London, eine harte Zeit, Straßenkämpfe, Unruhen. Anfang der 1990er Jahre wechselt er die Seiten, er studiert in Manchester, macht einen Bachelor of Laws und wird Rechtsanwalt. Mitte der 1990er Jahre wird er von der Großkanzlei DLA Piper rekrutiert, die ihn zum Partner macht. Dort baute er die Abteilung für "White Collar Crime" auf. Es ist die Zeit, in der Strafrecht im Unternehmenskontext so richtig zum Thema wird und die Welt der Großkanzleien erreicht. Gerrard ist genau zur richtigen Zeit mittendrin. Er steigt weiter auf, leitet bald den Bereich Europa für die Kanzlei, wird dann Co-Chef global für "Litigation and Regulatory", in Rankings für sein Gebiet wird er damals unter den Top 500 Anwälten weltweit gelistet.
Gerrard ist ein robuster Typ, sportlich, ehrgeizig. Kollegen aus der Zeit beschreiben ihn gegenüber der Plattform Law.com so: "Er wollte der Beste sein, egal ob Hürdenlauf, Segeln oder Jura oder was auch immer", andere nennen ihn bei seiner Arbeit getrieben von einer "God-level-ambition". 2011 wechselt er zu Dechert, einer internationale US-Großkanzlei, mit rund 1.000 Anwältinnen und Anwälten, weltweiten Standorten, unter anderem mit Büro in Frankfurt am Main. 2012 soll er angeblich rund 2 Millionen Pfund im Jahr verdient haben, das wären heute rund 2,3 Millionen Euro. Ehemalige Kollegen beschreiben ihn laut einer britischen Anwaltsplattform als "harten Arbeiter", als jemanden, der sie zu Höchstleistungen motivieren konnte, eine kontroverse Anwaltspersönlichkeit, die an Grenzen ging – aber auch darüber hinaus?
Seit 2020 ist der 68-jährige pensioniert. Und sieht sich plötzlich Anschuldigungen aus seinen High-Profile-Anwaltsjahren ausgesetzt. Die Vorwürfe gegen den einstigen Top-Juristen werden von Beobachtern als die Schlimmsten beschrieben, die jemals gegen einen britischen Anwalt erhoben wurden. Gefangene sollen an Stühle gebunden, Sonnenlicht und Duschen nur im Austausch gegen Kooperation zugestanden und Mail-Accounts zu Beweiszwecken gehacked worden sein.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf in einer Welt, die mehr als 5.000 Kilometer entfernt liegt.
Menschenrechtsverletzungen im Auftrag des Scheichs?
Ras Al Khaimah (RAK) liegt am Persischen Golf, nordwestlich von Oman, eine Stunde entfernt von den glitzernden Hochhaustürmen Dubais. Das kleine Emirat dürfte den meisten Europäern wenn überhaupt nur als Ziel für Strandurlaube und Wüstentouren bekannt sein. Für das Land sind neben Tourismus ausländische Investitionen überlebenswichtig. Dafür hat der Kleinststaat eine Investitionsbehörde, kurz RAKIA.c
Für RAKIA arbeitet seit 2008 unter anderem der Jurist Karam Al Sadeq, steigt in wenigen Jahren in die Führung der Behörde auf. Er stammt aus Jordanien, ist Ende zwanzig, verheiratet und hat Kinder, das Leben meint es nicht schlecht mit ihm. Es sei eine gute Zeit gewesen, erzählt er einem Daily-Mail-Journalisten im Interview. Aber sie endete jeh. Am 5. September 2014 soll er entführt worden sein, seitdem sitzt er in RAK im Gefängnis, eineinhalb Jahre lang in Einzelhaft. Es sind Vorwürfe, die Al Sadeq auch in Gerichtsverfahren vorbringt, entsprechende Dokumente liegen LTO vor. Er behauptet auch in der Haft gefoltert worden zu sein. Für all das verantwortlich macht er keinen anderen als den Londoner Top-Wirtschaftsstrafrechtler Neil Gerrard.
Wie kreuzten sich die Wege von Neil Gerrard und Karam Al Sadeq? In RAK ist die politische Situation angespannt. Schon unmittelbar vor dem Tod des damaligen Staatsoberhaupts 2010 entbrannte ein Machtkampf um seine Nachfolge, neuer Herrscher wurde Scheich Saud bin Saqr Al Qasimi. Der ist misstrauisch, verdächtigt "Staatsfeinde" gegen ihn zu arbeiten. Er holt sich Unterstützung. Die Kanzlei Dechert wird 2014 beauftragt möglichen Bedrohungen nachzugehen, berichtet etwa die Financial Times. Ins Visier gerät auch Khater Massaad, der ehemalige Chef der Investitionsbehörde RAKIA - für den Al Sadeq zwei Jahre lang gearbeitet hat. Ihm wird vorgeworfen, zwei Millionen Dollar veruntreut zu haben, später im Jahre 2017 wird Massaad deswegen zu 15 Jahren Haft verurteilt werden
Karam Al Sadeq soll in den Ermittlungen gegen seinen ehemaligen Chef Massaad kooperieren. Während der Befragungen, die von Gerrard und zwei weiteren Kollegen von Dechert durchgeführt worden sein sollen, soll er an einen Stuhl gefesselt und seine Augen verbunden gewesen sein. Von da an soll Al Sadeq unter widrigsten Bedingungen festgehalten worden sein. Gerrard soll ihm Sonnenlicht und Duschen versprochen haben, würde er nur endlich kooperieren. Sollte er sich weigern, hätten die Anwälte ihm damit gedroht, auch seine Ehefrau verhaften zu lassen, so erzählt es Al Sadeq.
Foltervorwürfe gegen "the Englishman"
Al Sadeq ist nicht der Einzige, der Dechert und Gerrard unrechtmäßige Inhaftierung und Verletzung der Menschenrechte vorwirft. Auch Jihad Quzmar, ebenfalls ein jordanischer Jurist und ehemaliger Rechtsberater des Scheichs, erhebt schwere Vorwürfe gegen Neil Gerrard. Quzmar sei verdächtigt worden, den Sturz des Scheichs zu planen. Genau wie Al Sadeq sei er deswegen aus seinem Haus entführt worden, während seine Frau und sein 10-jähriger Sohn anwesend waren. Durch inhumane, degradierende Methoden sollte er zu einem Geständnis gezwungen werden. In der Klageschrift von 2020, die LTO vorliegt, wird auf über siebzig Seiten beschrieben, welche Grausamkeiten dem heute 61-jährigen zugefügt worden sein sollen:
Hunderte Tage in Einzelhaft, eingeschränkte Bewegung und fast gar keine medizinische Versorgung sollen dafür gesorgt haben, dass sich der Gesundheitszustand von Quzmar erheblich verschlechterte. Zweimal sei er operiert worden und insgesamt 12-mal im Krankenhaus gewesen. Gerrard sei der Rädelsführer der Befragungen gewesen. In einem Brief aus dem Gefängnis an seine Frau soll Quzmar geschrieben haben, "the Englishman, Neil", sei derjenige gewesen, der ihm Duschen versagt und sogar seine Beine in Eisenketten gelegt hätte. Dechert und seine Anwälte weisen die Vorwürfe vehement zurück. Die beiden Gefangenen hätten sich des Betrugs schuldig bekannt und säßen rechtmäßig in Haft.
Al Sadeq und Quzmar haben im Jahr 2020 Schadensersatzklagen am Englischen High Court erhoben, die Verfahren wurden mittlerweile zusammengelegt. Wann mit einem Urteil zu rechnen ist, ist derzeit noch unklar. Auf Rückfrage von LTO konnte die Justiz dazu keine Auskunft geben.
Auch in den USA laufen Verfahren. 2020 ordnete ein US-Bundesrichter an, dass die Kanzlei Dechert dem inhaftierten Al Sadeq Beweismittel zugänglich machen muss, damit er seine Vorwürfe untermauern kann, ein Teilerfolg für Al Sadeq. Dechert und Gerrard haben auf LTO-Anfragen zu den Vorwürfen bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags nicht reagiert. In der Vergangenheit haben sie die Vorwürfe gegenüber anderen Medien bestritten.
Cyberhacking und abgesprochene Aussagen
Ebenfalls schwere Vorwürfe gegen Gerrard erhebt der iranisch-amerikanische Geschäftsmann Farhad Azima. Er und der Ex-Chef der RAKIA Khater Massaad sollen zusammengearbeitet haben, um Menschenrechtsverletzungen durch das Emirat RAK aufzudecken, darunter auch den Fall von Karam Al Sadeq. 2016 klagt RAKIA Azima wegen Betruges an. Er soll bei einer früheren Zusammenarbeit falsche Angaben gemacht haben, um eine Zahlung von RAKIA zu erhalten. Vor Gericht dienten tausende private E-Mails als Beweismittel gegen ihn. Azima sieht in dem Rechtsstreit einen politisch motivierten Angriff, weil er sich weigert in den Ermittlungen der RAKIA gegen Massaad zu kooperieren. Die E-Mails seien durch einen Hacking-Angriff ans Licht gekommen und dürften daher nicht als Beweise verwertet werden. Doch der Richter beim Londoner High Court lässt die Beweismittel zu, Azima wird 2020 verurteilt an RAKIA Schadensersatz in Höhe von vier Millionen Dollar zu zahlen.
Gerrard soll zu diesem Urteil beigetragen haben, indem er vor Gericht für RAKIA aussagte. Ein Privatermittler soll seine Aussage im Prozess zunächst bestätigt, später aber zugegeben haben, sich mit Gerrard abgesprochen zu haben. Die Männer hätten sich vorab in der Schweiz getroffen und ihre Versionen des Geschehens aufeinander abgestimmt, das Gerichtsverfahren regelrecht geprobt. Es stimme, so gibt der Privatermittler unterdessen zu, die Mails seien tatsächlich durch Hacking ans Licht gekommen. Farhad Azimas Fall wird nun neu verhandelt.
Mandatsverrat und falsche Ratschläge zur Profitsteigerung
Neben Menschenrechtsverletzungen und der Manipulation von Beweiserhebung, soll Gerrard außerdem vertrauliche Informationen einer seiner Auftraggeber weitergegeben haben, um sich selbst zu bereichern. 2017 arbeitete er für das Bergbauunternehmen ENRC. Der Firma wurde vorgeworfen korrupt zu sein, Gerrard sollte diesen Vorwürfen nachgehen. Die Informationen, die Gerrard im Laufe seiner Ermittlungen erlangte, gab er aber stattdessen an das britische Serious Fraud Office weiter. Gerrard war außerdem an Leaks beteiligt, bei denen vertrauliche Informationen des Unternehmens an die Presse weitergegeben wurden. Und indem er ENRC reihenweise falsche Ratschläge erteilte, hat er für eine wesentlich aufwändigere Prüfung gesorgt, um mehr Arbeit für Dechert zu generieren. So entstanden mehr als 11,5 Mio Pfund unnötige Kosten für ENRC.
Ein Gericht am High Court in England bestätigte 2022, dass Gerrard hierdurch seinen eigenen Profit steigern wollte. Das 380 Seiten lange Urteil liegt LTO vor. Der Richter fand deutliche Worte in seinem Urteil: "that he was so obsessed with making money from his work that he lost any real sense of objectivity, proportion or indeed loyalty to his client." Gerrard soll so besessen von seiner Arbeit gewesen sein, dass er jeden Sinn für Objektivität, Verhältnis oder Loyalität zu seinem Mandanten verloren hatte.
Das Verfahren könnte für Gerrard noch ein strafrechtliches Nachspiel haben. Laut Medienberichten aus Juni 2023 soll sich nun die britische Generalstaatsanwältin mit dem Fall beschäftigen, Gerrard wird vorgeworfen, in dem Zivilrechtsverfahren vor Gericht unter Eid gelogen zu haben.
Neun Jahre Karriere und hunderte Millionen Dollar Schaden?
Neun Jahre war Neil Gerrard für Dechert tätig. Neun Jahre, die die Kanzlei nun hunderte Millionen Dollar kosten könnten. Wie hoch der Schaden ist, der dem Bergbauunternehmen ENRC durch den Vertragsbruch von Gerrard entstanden ist, wird aktuell vor dem High Court in London geklärt. Eine Zwischensumme von 20 Millionen steht bereits. Aber allein Azima soll in seiner US-Klage gegen Dechert 100 Millionen Dollar verlangen. Nach Recherchen von LTO laufen derzeit in Großbritannien vier Schadensersatzklagen gegen Gerrard bzw. Dechert und zwei weitere in den USA. Sie haben sich zu den Vorwürfen der gehackten Mails, dem Mandantenverrat und den Foltervorwürfen formiert.
Die Details in Gerichtsdokumenten zeichnen das Bild eines Mannes, der keine Grenzen kannte, wenn es um den eigenen Profit ging. Die nächsten Jahre in den Gerichten in den USA und UK werden zeigen, wie weit der Anwalt in seiner Karriere tatsächlich ging und welchen Schaden er angerichtet hat.
Beitrag in der Version vom 13.08.2023, 22.26 Uhr, korrigiert wurde die Entfernung London - Ras Al Khaimah.
Gerichtsverfahren laufen in London an: . In: Legal Tribune Online, 10.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52457 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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