Das LG Berlin hat den mutmaßlichen Berliner U-Bahn-Schläger zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Den Boulevardmedien wird das nicht gefallen. Allzu milde ist die Entscheidung aber auch nicht, die Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Ein rechtsstaatliches Urteil, das von Bildern und Medien nicht beeinflusst wurde, meint Volker Boehme-Neßler.
Es war kein Krimi, der in den letzten Monaten bei YouTube zu beobachten war. Es war bittere Realität: In einem düsteren U-Bahnhof in Berlin liegt ein Mensch verletzt am Boden. Ein hünenhafter Mann tritt dem Wehrlosen wieder und wieder mit aller Gewalt auf den Kopf. Erst als ein Tourist mit Zivilcourage eingreift, lässt der Angreifer widerwillig von seinem Opfer ab.
Der stark betrunkene Gymnasiast sei in "Provozierlaune" gewesen, werden die Richter später sagen über den Vorfall. Das Opfer, ein heute 30-jähriger Installateur, der zur Urteilsverkündung vor dem Landgericht in Berlin erschienen ist, fiel dem Gymnasiasten zufällig in die Hände, jeder andere hätte an seiner Stelle sein können.
Die Überwachungskameras haben den Vorfall minutiös aufgezeichnet, die Polizei hat den Angreifer bald ermittelt. Es ist der 18 jährige Torben P., der noch zur Schule geht.
Das Urteil im Gerichtshof der Öffentlichkeit steht sofort fest. Der "Brutalo-Treter", wie ihn wie die Boulevardpresse nennt, muss schnell und möglichst lange weggesperrt werden. Die Justiz in Berlin sieht das zunächst anders. Untersuchungshaft wird nicht verhängt: Es liegen keine Haftgründe vor. Torben P. lebt bei seinen Eltern, er kommt aus geordneten Verhältnissen, geht aufs Gymnasium. Der empörten Öffentlichkeit ist schon fast nicht mehr verständlich zu machen, dass er nicht in Untersuchungshaft genommen wird.
Weichenstellungen: Der unreife Totschläger
Auch nun, nach der Entscheidung des Landgerichts (LG) Berlin, wird der Achtzehn-Jährige nicht sofort in Haft müssen. Die Jugendstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten wurde zwar nicht zur Bewährung ausgesetzt, die Haftverschonung hielt die Kammer aber aufrecht. Torben P. kann nun in Freiheit abwarten, bis das Urteil rechtskräftig ist. Die Verteidigung hat nach Angaben des Sprechers des Berliner Landgerichts bereits erklärt, erst einmal Revision einzulegen gegen die Entscheidung, um während der Frist zu deren Begründung zu prüfen, ob das Rechtsmittel Aussicht hat auf Erfolg.
Das Landgericht (LG) Berlin hat in seinem Urteil zwei wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Die Kammer hat Jugendstrafrecht auf den Täter angewendet. Torben P. war zur Tatzeit gerade 18 Jahre alt. Sein Entwicklungsstand war aber – so die Richter – nur der eines Jugendlichen. Torben P. war eine unreife Persönlichkeit, die sich noch in der Entwicklung befindet. Die rechtliche Konsequenz: Nach § 105 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG) mussten die Richter materielles Jugendstrafrecht anwenden.
Das Jugendstrafrecht sieht mildere Strafen vor als das für Erwachsene. Bei jugendlichen Straftätern steht der Erziehungs- und Resozialisierungsgedanke im Vordergrund. Zudem wirken, das besagen empirische Untersuchungen, zu hohe Strafen entsozialisierend.
Für das Opfer kann das im Einzelfall bitter sein. Die Gesellschaft hat sich aber entschieden: Es geht hier (fast) nicht um Sühne und Wiedergutmachung für das Opfer. Das Jugendstrafrecht will den Rechtsfrieden verteidigen und versuchen, jugendliche Täter wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Wenn es eine Chance auf Resozialisierung gibt, soll sie nicht durch ein hartes Urteil zunichte gemacht werden.
"Nur" Körperverletzung, versuchte Tötung oder gar Mord?
Die zweite Weichenstellung war die Frage, wie die brutale Tat des Schülers rechtlich einzuordnen ist. Die Bandbreite war enorm zwischen "nur" gefährlicher Körperverletzung über versuchten Totschlag bis hin zum Mordversuch.
Die Tat in der Osternacht war extrem aggressiv, roh und erschreckend mitleidlos. Daran kommt niemand vorbei, der das Video der Tat gesehen hat. Die Berliner Richter haben das Geschehen zum Nachteil des Installateurs als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung bewertet. Die Kammer ist also davon ausgegangen, dass Torben P. „die Gefährlichkeit der Tritte» erkannte - auch, dass er das heute 30-jährige Opfer hätte tödlich verletzen können. «Das nahm er hin», erläuterte der Vorsitzende Richter Uwe Nötzel bei der Urteilsbegründung. Der Handwerker fiel durch die Gewaltorgie laut Urteil in extrem tiefe Bewusstlosigkeit. «Er hätte ersticken können», betonte Nötzel bei der Verkündung der Entscheidung der Kammer.
Von einem Mord aber ging das LG Berlin nicht aus: Das einzig in Betracht kommende Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe sahen die Richter als nicht erfüllt an. Es reiche nicht, so der Vorsitzende Richter, dass die Tat unverständlich und sinnlos sei. In ständiger Rechtsprechung sei für das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe vielmehr eine besonders verwerfliche Grundeinstellung des Täters erforderlich, die bei dem Angeklagten, der noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, gerade nicht vorliege.
Und eines kommt verschärfend noch hinzu: Torben P. hat nicht aus eigenem Antrieb von seinem Opfer abgelassen, sondern sich vielmehr noch losgerissen, als ein bayerischer Tourist ihn davon abhielt, weiter auf den Bewusstlosen einzutreten. Auch dieses Verhalten haben die Richter strafschärfend berücksichtigt – und den zur Tatzeit 18-Jährigen tatmehrheitlichauch wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zu Lasten des Touristen verurteilt.
Der Schüler war stark angetrunken, als er die Tat beging. Ein Gutachten war zu dem Ergebnis gekommen, dass er durch den Alkohol deutlich enthemmt gehandelt habe und hatte eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht ausgeschlossen. Davon ging nun auch die Kammer aus, die den Gymnasiasten als vermindert schuldfähig ansah.
Die Macht der Bilder und die Justiz
Auch die Richter in dem Strafprozess gegen Torben P. haben das 18 Sekunden lange Video gesehen. Auch sie lesen die Zeitungen und können sich jedenfalls am Kiosk den Forderungen der Boulevardpresse nicht entziehen.
Wie gehen Richter im Strafprozess mit Emotionen um - mit ihren eigenen und den Gefühlen der Öffentlichkeit? Im Rechtsstaat ist die Antwort klar: Richter müssen urteilen, ohne sich von Gefühlen leiten zu lassen. Das ist nie einfach. Auch sie sind Menschen und haben Emotionen, mit denen sie umgehen müssen.
Das deutsche Rechtssystem traut ihnen aber zu, sich bei der Urteilsfindung von ihren Gefühlen frei zu machen. Die Ausbildung der Berufsrichter zielt auf eine nüchterne, rationale Betrachtung und Analyse der Tatgeschehen. Anders als die Schöffen lernen sie von Anfang an, sich auf die reinen Fakten zu konzentrieren und Emotionen - so weit es geht - auszublenden. Emotionale Distanz ist ein Lernziel der deutschen Juristenausbildung. Auch das umfangreiche Aktenstudium, das einer Entscheidung vorausgeht, sorgt dafür, dass Gefühle möglichst wenig Wirkung entfalten können.
Im Fall Torben P. war es sicherlich besonders schwierig, die Gefühle außen vor zu lassen. Die Tat war in allen Einzelheiten aufgezeichnet worden. Die emotionale Wucht des 18-Sekunden-Films der Überwachungskamera, der auch im Internet zu sehen war, war enorm. Sich ihr zu entziehen, war kaum möglich. Trotzdem haben die Richter es geschafft, sich davon freizumachen und die Tat rational und nüchtern zu beurteilen. Sonst hätten sie nicht zu einem so maßvollen Urteil finden können.
Menschen oder Monster – die Frage gibt es nicht
Eine Tat kann monströs sein. Der Täter aber ist nie ein Monster, sondern ein Mensch. Das ist die Grundüberzeugung des modernen rechtsstaatlichen Strafrechts. Deshalb gibt es im Strafprozess auch keinen Platz für Rache oder Vergeltung.
Monströse Taten nüchtern und abwägend zu beurteilen, kann unmenschlich schwer sein. Richter im Rechtsstaat aber müssen das können.
Das LG Berlin hat bewiesen, dass es möglich ist. Die Kammer hat ein Urteil gefällt, ohne sich vom populistischen Furor der Boulevardblätter beeinflussen zu lassen. Torben P. muss eine Jugendstrafe verbüßen – und es ist nicht sicher, ob irgendwann ein Teil davon noch zur Bewährung ausgesetzt werden wird. Fast drei Jahre - das ist aber kein mildes Urteil. Die Entscheidung ist, sofern man das als nur externer Beobachter beurteilen kann, so hart wie nötig, um das Unrecht der Tat zu ahnden und das Recht (der Schwächeren) in der Öffentlichkeit zu verteidigen.
Torben P. der bislang völlig unauffällig gelebt hat, wurde zu der Jugendstrafe nicht wegen schädlicher Neigungen verurteilt, die in der von ihm verübten Tat zutage getreten wären. Er wurde verurteilt, weil er mit dieser einen Tat besonders schwere Schuld auf sich geladen hat. Dabei ist das Urteil auch so milde wie möglich, damit dem Täter eine Chance zur Resozialisierung bleibt.
Prof. Dr. jur. habil. Dr. rer. pol. Volker Boehme-Neßler lehrt u.a. Medienrecht in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung. Nomos Verlag Baden-Baden.
Mehr auf LTO.de:
"Die Öffentlichkeit als Richter?" von Volker Boehme-Neßler: Litigation-PR unter der Lupe
Die Staatsanwälte und der Fall Kachelmann: Die Kavallerie der Justiz
Volker Boehme-Neßler, Jugendstrafe für Torben P.: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4336 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag