In 2016 ging einiges schief. Die Reform des Sexualstrafrechts, die Auswüchse rund um das Gina-Lisa-Verfahren und das doch sehr besondere elektronische Anwaltspostfach machten da keine Ausnahme. Und sind für Pia Lorenz doch Grund zur Hoffnung.
2016 war ein mieser Verräter. Nach dem Brexit im Juni fragten sich noch alle, wie das geschehen konnte. Nach dem dann folgenden Niedergang des Rechtsstaats in der Türkei im Anschluss an den Putsch gegen Recep Tayip Erdogan, nach der Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichts und nach der Wahl von Donald Trump muss man nicht mehr besonders pessimistisch sein, um mit Zukunftsangst auf die in Europa 2017 anstehenden Wahlen zu blicken.
Dennoch zeigt der Rückblick auf das Jahr bei LTO, dass uns auch ganz andere, sehr innerdeutsche Fragen beschäftigt haben. Und beschäftigen sollten.
So interessierte sich in der ersten Jahreshälfte plötzlich das ganze Land für eine Reform des Sexualstrafrechts. Ein Papier aus dem Bundesjustizministerium, das schon seit Sommer 2015 in den Hinterzimmern der Politik vor sich hin dümpelte, schien manch einem nach den Vorfällen zu Silvester in Köln nicht einmal mehr ausreichend. Im Zuge der öffentlichen Empörung über die sexuellen Übergriffe vor allem durch junge Männer nordafrikanischer Herkunft auf der Domplatte überschlug die Nation sich in ihren Forderungen nach einer Verschärfung des Sexualstrafrechts. Dass die weder an den Kölner Vorfällen noch an ihrer Strafbarkeit, geschweigen denn ihrer Verfolgbarkeit etwas geändert hätte, ging in der lauten Forderung nach "Nein heißt Nein" unter.
Voll ausgeschöpft wurde das öffentliche Empörungspotential, nicht zuletzt dank tatkräftiger Unterstützung aus der Politik, im Sommer 2016 mit dem "Fall Gina-Lisa". Eine Welle der Solidarität, in den sozialen Medien zusammengenfasst unter dem Hashtag #TeamGinaLisa, begleitete den Prozess wegen falscher Verdächtigung gegen die ehemalige Kandidatin von Germany’s Next Topmodel. Auch von namhaften Frauenrechtlerinnen erhielt Lohfink, vormals nicht eben eine Ikone der Emanzipation, lautstarke Unterstützung.
Es war, selbst wenn man so manches Anliegen der Reformer als berechtigt ansehen will, der denkbar falscheste Fall. Als das selbsternannte Model Ende August wegen falscher Verdächtigung verurteilt wurde, weil das Gericht den Vergewaltigungsvorwurf als "in Gänze widerlegt" betrachtete, sah selbst das Justizministerium sich genötigt, klarzustellen, dass Heiko Maas "nie im Team Gina-Lisa" gewesen sei. Die Reform des Sexualstrafrechts war da aber längst durch den Bundestag.
Bilder aus Deutschlands Gerichtssälen
Könnten solche Verfahren wie das um Gina-Lisa Lohfink künftig noch mehr zur Boulevardisierung des juristischen Diskurses beitragen? Das war eine von mehreren Sorgen, die in der Justiz angesichts der geplanten Einführung von TV-Übertragungen ihrer Prozesse umgingen. Von angeblich drohenden "amerikanischen Verhältnissen" wurden gewarnt. Zuletzt setzten sich die wichtigsten Richter Deutschlands - auch wenn nicht alle von ihnen die Angst davor teilten, der Justiz ein Gesicht zu geben - sogar in Form eines gemeinsamen Schreibens sämtlicher Bundesgerichte gegen die geplante Reform des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Wehr.
Verhindern konnten die öffentlichkeitsscheuen zwar Richter nicht, dass auch Deutschland seine Verfahrensordnung den Möglichkeiten der (schon gar nicht mehr so) neuen Medien anpasst. Aber es ist nur ein kleines bisschen Gerichtsfernsehen geworden, auf das die Koalition sich nach langem Hin und Her einigte. Fast nur bei Bundesgerichten, auch dort nur mit Zustimmung des Vorsitzenden und nur für die Verkündung des Urteils dürfen Kameras die Justiz künftig transparenter machen.
Überhaupt musste die Juristenschaft in 2016 miterleben, wie selbst in ihren regulierten, intransparenten und wertekonservativen Markt technische Errungenschaften Einzug hielten, die andere Branchen längst tiefgreifend verändert haben. Der Legal-Tech-Markt boomt, den Juristen wird zunehmend bewusst, dass die Digitalisierung auch ihre Arbeitswirklichkeit umkrempeln wird – und das teilweise auch schon tut. Ob und inwieweit Software unsere Arbeit unterstützen oder gar übernehmen wird, war eine der Fragen, denen LTO zum Anwaltszukunftskongress im September unter dem Titel "Die neuen Juristen" eine Sonderausgabe gewidmet hat.
Eine lange Geschichte voller Missverständnisse
Dabei muss man unterstellen, dass die Digitalisierung der Rechtsbranche an anderen Stellen besser funktionieren wird als bei einem Thema, das sich durch das gesamte Jahr 2016 zog – was vor allem deshalb ungewöhnlich war, weil eigentlich gar nichts passierte.
Denn obwohl der Start des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) für den 1. Januar angekündigt war, ließen die neuen, digitalen Briefkästen nahezu das gesamte Jahr auf sich warten. Nach einer ersten Verschiebung schaffte das beA es, auch den zweiten Starttermin nicht zu halten und ging am 29. September, mit zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Monaten Verspätung, nicht an den Start. Bis dahin hatte die verantwortliche Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) das System zwar nach eigener Erklärung technisch fertigstellen können, doch jetzt verhinderten zwei Verfügungsverfahren vor dem Anwaltsgerichtshof (AGH) in Berlin den Start.
Das beA startete schließlich im November, nachdem der AGH festgestellt hatte, dass die Freischaltung des Postfachs nach einer zwischenzeitlich eigens erlassenen Verordnung und einer (erzwungenen) Änderung der Rechtauffassung der BRAK zur Frage der Nutzungspflicht nicht mehr in die Berufsfreiheit der Rechtsanwälte eingreife.
Nun steht fest, dass die Anwälte das Postfach erst ab 2018 nutzen müssen; bis dahin sollen sie es in einer Testphase kennen lernen. Das wiederum gestaltet sich eher schwierig. Im Dezember teilte der Software Industrie Verband Elektronischer Rechtsverkehr mit, dass die BRAK noch immer keine technische Schnittstelle zur Verfügung gestellt habe. Mit der Software, die ein ganz überwiegender Teil der Anwälte verwendet, sind die Postfächer also bislang nicht kompatibel. Vor frühestens Mitte 2017 wird sich daran auch nichts ändern.
Die Zukunft nicht nur des Rechtsmarkts
Als ähnlich zeitgemäß erwies sich ein mit Spannung erwartetes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus September zur Haftung für Hyperlinks. Die erste deutsche Entscheidung, die die Luxemburger Rechtsprechung aufgriff, folgte im November von Seiten des Landgerichts Hamburg, und bestätigte die schlimmsten Befürchtungen: Wer als Betreiber einer Webseite, die auch nur irgendwie auf die Erzielung von Gewinnen ausgerichtet ist, Links zu anderen Webseiten setzt, muss demnach sicherstellen, dass auf den verlinkten Seiten keine urheberrechtsverletzenden Inhalte zu finden sind.
Diese Themen haben uns beschäftigt – trotz des Sterbens in Syrien, trotz Terror-Anschlägen auf fast allen Kontinenten und der weltweiten Welle des Rechtspopulismus. Nicht nur, weil die Entscheidungen aus Luxemburg und Hamburg für alle im Online-Bereich Tätigen relevant sind. Weil das Sexualstrafrecht eines Landes viel verrät über sein Bild von Frauen und Männern und über die Gesellschaftsstrukturen, die es definieren will. Weil die Information der Öffentlichkeit über Gerichtsprozesse entscheidend ist für die politische Meinungsbildung einer ganzen Nation. Und weil eine digitalisierte Zukunft der Juristen natürlich auch maßgeblich ist für den Zugang zum Recht und damit für den Rechtsstaat, der Deutschland sein will.
Diese Themen zeigen auch eine Beschäftigung mit unseren Werten und mit unserer Zukunft. Diese Werte gibt es noch und trotz aller Grausamkeiten und durchaus bedrohlichen weltweiten Entwicklungen gehen nicht einmal die pessimistischen Deutschen ernsthaft davon aus, dass sich das gravierend verändern wird. Das sollte auch so bleiben.
Wir sollten uns jeden Tag bewusst machen, auf welcher Insel der Glückseligen wir leben. Es hat viel Leid, aber auch viel zivilisatorischen Aufwand gebraucht, um diese Welt und die Werte zu erschaffen, um deren Erhaltung und Verteidigung wir uns nun sorgen dürfen. Hoffen wir, bei allen berechtigten Ängsten vor 2017, dass wir uns auch am Ende des kommenden Jahres vor allem Gedanken um die Zukunft des Rechtsmarktes machen können.
Pia Lorenz, Mein Jahresrückblick 2016: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21601 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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