Der Familiennachzug ist für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt, doch auch für Ausländer mit besserem Schutzstatus gibt es hohe Hürden. Die gelten auch für unbegleitete Minderjährige. Die Rechtslage erklärt Carsten Hörich im Gespräch.
LTO: Herr Dr. Hörich, Sie haben ein Gutachten zum Geschwisternachzug geschrieben. Worum geht es?
Dr. Carsten Hörich: Das Gutachten betrifft die Rechtslage von Kindern, bei denen ein minderjähriges unbegleitetes Geschwisterkind in Deutschland einen Schutzstatus bekommen hat. Aus dessen Aufenthaltserlaubnis folgt nach § 36 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ein unbedingtes Nachzugsrecht der Eltern, nicht aber der Geschwister. Das führt dazu, dass die Eltern sich zwischen dem Kind in Deutschland und anderen minderjährigen Kindern im Ausland entscheiden oder die Eltern sich zwischen den Kindern aufteilen müssen.
LTO: Wenn Sie sagen, es geht um minderjährige Flüchtlinge – über welchen Flüchtlingsbegriff reden wir?
Hörich: Von der Nachzugssituation sind alle minderjährigen Flüchtlinge betroffen. Für subsidiär Schutzberechtigte ist der Familiennachzug nach § 104 AufenthG bis 16. März 2018 grundsätzlich ausgesetzt.
Die Problematik des Geschwisternachzugs stellt sich aber auch bei Minderjährigen, die den Schutzstatus als Asylberechtigter iSd Art. 16a Grundgesetz (GG) oder die Flüchtlingsanerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) haben, was im deutschen Recht im Flüchtlingsbegriff des § 3 Abs. 1 AufenthG abgebildet ist.
Auch deren Eltern können die Geschwister bei einem Nachzug nach Deutschland gemäß §§ 32 Abs. 1 i.V.m. 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur mitnehmen, wenn sie eine ausreichend große Wohnung und die finanzielle Absicherung für die mitziehenden Geschwisterkinder nachweisen können - was praktisch in vielen Fällen unmöglich ist.
Keine subjektiven Rechte der Kinder
LTO: Sie haben sich mit der Frage befasst, inwieweit diese Regelungen in Bezug auf Geschwisterkinder mit höherrangigem Recht in Einklang stehen. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Hörich: Das Ergebnis ist, dass die Kinder im ersten Schritt keinen unmittelbaren Anspruch auf Nachzug ihrer Geschwister haben. Dies ergibt sich zum Einen nicht aus dem europäischen Sekundärrecht, wo sich schon keine einschlägigen Regelungen für den Geschwisternachzug finden. Doch auch aus der Kinderrechtskonvention (CRC), der Europäischen Menschenrechtskonvention, der EU-Grundrechtecharta und den deutschen Grundrechten ergeben sich keine unbedingten subjektiven Nachzugsrechte der Kinder.
Von allen Regelungen hat überhaupt nur Art 3 CRC – zumindest nach herrschender Meinung – innerstaatlich Gesetzescharakter. Doch auch daraus folgt nur, dass das Wohl des Kindes bei allen Abwägungen als vorrangiger Gesichtspunkt zu berücksichtigen ist. Darüber hinaus ergibt sich weder aus dem Völkerrecht noch aus anderen vorrangigen Rechtsnormen ein abwägungsfester Nachzugsanspruch der Kinder. Das Wohl des Kindes muss zwar immer ein starkes Abwägungsinteresse sein, aber es kann durchaus staatliche Interessen geben, die denen der Kinder entgegenstehen können. Dies muss immer im Einzelfall geprüft werden. Konkret muss also geprüft werden: Welche staatlichen Interessen könnten dem Mitzug der minderjährigen Geschwisterkinder entgegenstehen?
Im Rahmen dieser Abwägung muss ein Nachzug im Einzelfall dann aber immer möglich sein. Genau diese Möglichkeit wird aber durch die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, nach welcher vom Wohnraumerfordernis auch im Einzelfall nicht abgesehen kann, verbaut. Insofern ist das deutsche Recht mit völkerrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar.
Tanja Podolski, Interview zum Familiennachzug für Geschwisterkinder: . In: Legal Tribune Online, 04.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26311 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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