Insbesondere aufgrund des Klimawandels werden in Zukunft mehr Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen. Reicht der Schutz unter der Genfer Flüchtlingskonvention dafür aus? Eilidh Beaton schlägt eine Reform vor.
LTO: Die andauernde Flüchtlingskrise wird sich in den nächsten Jahrzehnten aufgrund des Klimawandels noch verstärken. Wie sind Flüchtlinge derzeit rechtlich geschützt?
Eilidh Beaton: Das wichtigste internationale Instrument zum Schutz von Flüchtlingen sind die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und das Zusatzprotokoll von 1967. Die GFK formuliert insbesondere zwei Voraussetzungen, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Schutzsuchende müssen eine begründete Furcht vor Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung haben. Zudem müssen sie sich außerhalb ihres Herkunftsstaats befinden.
Daneben gibt es komplementäre Formen des Flüchtlingsschutzes, zum Beispiel die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms von Flüchtlingen (2001/55/EG, Massenzustrom-Richtlinie). In Bezug auf den Schutz von Binnenvertrieben, also innerhalb ihres Herkunftsstaates Vertriebene (Internally Displaced Persons, IDPs), haben die UN die Leitlinien für Binnenvertriebene geschaffen.
Ist der existierende rechtliche Rahmen ausreichend, um Flüchtlinge zu schützen?
Die Voraussetzungen der GFK wurden immer wieder deutlich kritisiert. Die komplementären Mechanismen des Flüchtlingsschutzes schließen einige Lücken der GFK, aber sie sind dehnbar. Staaten haben regelmäßig ein weites Ermessen darüber, wie und wann sie sie anwenden. Denn hierbei handelt es sich nicht um völkerrechtliche Abkommen. Oft gewähren sie weniger Rechte als die GFK. Die Leitlinien für Binnenvertriebene sind ein wichtiger Schritt, aber es handelt sich nur um sogenanntes "soft law", also um rechtlich unverbindliche Übereinkünfte, Leitlinien oder Absichtserklärungen.
Welche Lücken weist die GFK auf?
Die GFK wurde für die Formen von Bedrohungen konzipiert, vor denen Menschen zum Zeitpunkt der Entstehung der Konvention flohen, d.h. vor dem Hintergrund der Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg. Heute fliehen Menschen aber häufig vor viel allgemeineren Gefahren, zum Beispiel wegen schwerer Umweltkatastrophen als Folge des Klimawandels oder vor Bürgerkriegen. Die Voraussetzung einer "begründeten Furcht vor Verfolgung" erfasst diese Menschen nicht. Nichtsdestotrotz besteht aber auch für diese Menschen eine dauerhafte Gefahr, die einen Schutz rechtfertigt.
Zudem ist die GFK ja nur auf Schutzsuchende anwendbar, die sich außerhalb ihres Herkunftsstaates befinden. Die Verantwortung liegt also bei den Schutzsuchenden, ihr Heimatland zu verlassen. Diese Flucht kann aber unter Umständen schwierig, gefährlich und teuer sein – besonders, wenn es sich dabei um ältere Menschen, Kinder oder Frauen handelt.
"Wir brauchen eine neue Definition von Flüchtlingen"
Sie schlagen eine Reform der GFK vor. Wie soll diese aussehen?
Wir brauchen eine neue Definition, die auch die von mir geschilderten Fälle erfasst. Mein Vorschlag lautet, dass jeder Flüchtling ist, der erstens eine begründete Furcht vor der Verletzung seiner Menschenrechte geltend machen kann, der sich zweitens nicht effektiv an die Regierung seines Herkunftsstaates wenden kann, selbst unter Berücksichtigung internationaler Unterstützung, und dessen Schutz drittens nur oder am besten durch die Anerkennung als Flüchtling erfolgen kann.
Ich ersetze also die begründete Furcht vor identitätsbezogener Verfolgung durch eine begründete Furcht vor der Verletzung der Menschenrechte. Gleichzeitig entfällt das Erfordernis, sich außerhalb seines Herkunftsstaates befinden zu müssen.
Warum stellen sie die Frage danach, ob internationale Unterstützung möglich ist?
Die Berücksichtigung der Möglichkeit internationaler Unterstützung soll helfen, herauszufinden, ob der Herkunftsstaat tatsächlich nicht mehr gewillt ist, seinen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern nachzukommen.
Gleichzeitig werden aber auch Fälle erfasst, in denen der Staat zwar gewillt, aber die Situation derart aussichtslos ist, dass sogar bei internationaler Unterstützung kein adäquater Schutz gewährleistet werden kann. Dieser letzte Fall ist besonders für schwere Klimakatastrophen relevant: Ein Staat möchte seinen Bürgern helfen, aber selbst unter Einbeziehung internationaler Hilfe kann kein adäquater Schutz erfolgen, weil das Ausmaß der Zerstörung schlichtweg nicht mehr zu bewältigen ist.
Könnten so auch die IDPs besser geschützt werden?
Durch die von mir vorgeschlagene Reform würden IDPs von der Konvention erfasst werden, weil sich Schutzbedürftige nicht mehr außerhalb ihres Herkunftsstaates befinden müssen.
Zudem brauchen wir neue Kategorien des Schutzes. Man könnte verschiedene Kategorien der Schutzbedürftigkeit von IDPs erwägen, denn nicht alle müssen zwangsläufig als Flüchtlinge anerkannt werden. Der Flüchtlingsschutz sollte denjenigen gewährt werden, die tatsächlich auf seinen Inhalt – Gewähr von Asyl und Schutz vor Abschiebung – angewiesen sind.
Eine Kategorie gäbe es dann für Fälle, in denen keine internationale Unterstützung notwendig ist, weil der Herkunftsstaat in der Lage ist, die Rechte der Binnenvertriebenen zu schützen. Eine zweite Kategorie für Fälle, in denen zwar Unterstützung notwendig ist, aber der Herkunftsstaat die Hoheit über die fundamentalen Entscheidungen behalten sollte. Schließlich eine dritte Kategorie für die besonders schweren Fälle, in denen der Herkunftsstaat völlig machtlos ist. In solchen Fällen sollte die internationale Gemeinschaft erwägen, Individuen Schutz zu gewähren, sofern sie diesen ersuchen.
Balance zwischen staatlicher Souveränität und Schutz der Menschenrechte
An einer Erweiterung des Anwendungsbereiches der Konvention gibt es viel Kritik. Zum Beispiel müsste die internationale Gemeinschaft unter Umständen in die staatliche Souveränität eingreifen, um Flüchtlinge zu schützen, die die Grenze ihres Herkunftsstaates noch nicht überquert haben. Was entgegnen Sie den Kritikern?
Das Recht auf staatliche Souveränität schließt auch die Pflicht zum Schutz der Menschenrechte derjenigen ein, die auf dem Staatsgebiet leben. Zudem gilt das Recht nicht absolut. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord oder ethnischen Säuberungen kann in die staatliche Souveränität eingegriffen werden.
Andererseits sehe aber auch ich erhebliche Risiken, wenn das Prinzip staatlicher Souveränität zu stark beschränkt wird. Zum Beispiel könnte es vermehrt zu ungerechtfertigten Interventionen kommen. Gerade in der Welt, in der wir heute leben, besteht dann das Risiko, dass sich kolonialistische Hierarchien fortsetzen. "Starke" westliche Staaten könnten ihr Recht auf Souveränität wahren, während post-koloniale Staaten sich einem permanenten Risiko der Intervention ausgesetzt sehen. Dennoch denke ich, dass es einen Mittelweg gibt. Zum Beispiel könnte die internationale Gemeinschaft vermehrt in Verhandlungen mit dem betreffenden Staat treten oder diesen stärker sanktionieren.
Sie sind Philosophin und forschen zu rechtlichen Themen – können Juristen etwas von Philosophen lernen?
Ich denke, dass beide etwas voneinander lernen können. Einer der Vorteile, wenn wir als Philosophen über rechtliche Fragen nachdenken, besteht darin, dass wir über die großen Fragen wie langfristige Gerechtigkeit nachdenken können. Diese Freiheit hat man in eher praktisch orientierten Disziplinen weniger. Philosophen beschäftigen sich natürlich auch mit Fragen der Machbarkeit ihrer Vorhaben. Aber Gerechtigkeit steht für uns dann doch an erster Stelle. Philosophen können auch insgesamt mehr Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Die Bestimmungen der GFK zu ändern, würde für einen Juristen viel eher als nicht machbar verworfen werden. Aber als Philosoph kann man über derartige Fragen nachdenken und lang existierende Prinzipien und Kategorien hinterfragen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Eilidh Beaton hat am Department of Philosophy der University of Pennsylvania zu den Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes promoviert. Sie war Fellow am Department of Philosophy, Logic and Scientific Method der London School of Economics und lehrte Political Economy Education am King’s College London. Derzeit ist sie Postdoctoral Fellow an der University of Pennsylvania.
Reform der Genfer Flüchtlingskonvention: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51706 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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