Russland wirft der Ukraine Völkermord an der russischen Minderheit im Donbass vor. Den Vorwurf nutzt die Ukraine, um Klage vor dem IGH zu erheben. Schon im Vorfeld versucht Russland, das Verfahren zu Fall zu bringen.
Das Verfahren, in dem der Internationale Gerichtshof (IGH) ab Montag verhandeln wird, ist in vielerlei Hinsicht besonders. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat Deutschland am 5. September 2022 im Verfahren der Ukraine gegen Russland eine Interventionserklärung vor dem IGH abgegeben. Und neben Deutschland intervenieren 31 andere Staaten – so viele wie nie zuvor. Als Vertragsstaaten der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 (Völkermordkonvention), auf die die Ukraine die Klage stützt, können sie unter den Voraussetzungen von Art. 63 IGH-Statut intervenieren. Von der Auslegung des Vertrages durch den IGH sind sie ebenfalls betroffen, sodass sie die Möglichkeit haben, eine Stellungnahme abzugeben.
In ihren Interventionserklärungen haben viele Staaten sich schon deutlich positioniert: Russland wirft der Ukraine einen Völkermord in den Separastistengebieten Luhansk und Donezk vor – und nutzt diese Behauptung als Kriegsrechtfertigung. Einige Staaten haben daran anknüpfend ihre Auslegung von Art. I der Völkermordkonvention, nämlich der Verpflichtung zur Verhinderung von Völkermord, vorgetragen: Diese Verpflichtung müssten Staaten in gutem Glauben erfüllen. Wenn ein Staat nicht guten Glaubens sichergestellt habe, dass tatsächlich ein Völkermord geschehe, könne er nicht rechtswidriges Verhalten – zum Beispiel militärische Gewalt – auf Basis der Konvention rechtfertigen.
Bereits im März 2022 hatte der IGH in einem Eilverfahren auf Antrag der Ukraine unter anderem angeordnet, dass Russland sofort die militärischen Operationen auf ukrainischem Territorium einstellen muss. Gleichzeitig mit dem Eilantrag hatte die Ukraine auch die Klage gegen Russland eingereicht. Sie wehrt sich gegen den Vorwurf des Völkermordes.
"Umweg" zur Begründung der Zuständigkeit des IGH
Die russischen Angriffshandlungen gegen die Ukraine sind zwar klar eine Verletzung des Gewaltverbots nach Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta). Der IGH ist allerdings nur in drei Fällen zuständig: Staaten können sich entweder abstrakt für sämtliche Streitigkeiten oder für ein konkretes Verfahren seiner Gerichtsbarkeit unterwerfen. Das haben aber weder Russland noch die Ukraine getan.
Daneben gibt es noch den "Umweg" über Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 des IGH-Statuts in Verbindung mit einer sogenannten kompromissarischen Klausel in einem völkerrechtlichen Vertrag, die die Zuständigkeit des IGH begründet. Diesen Weg wählte die Ukraine: Artikel IX der Völkermordkonvention legt den IGH als zuständiges Gericht für Streitigkeiten über die Anwendung und Erfüllung der Konvention zwischen Vertragsstaaten – sowohl Russland als auch die Ukraine zählen dazu – fest.
Ukraine: Kein Völkermord in Donezk und Luhansk
Vor dem IGH möchte die Ukraine insbesondere die Feststellung erreichen, dass sie in Luhansk und Donezk keinen Völkermord begeht – und Russland dementsprechend auch keine "Maßnahmen" bzw. die "besondere militärische Operation" auf ukrainischem Territorium auf eine Verletzung der Völkermordkonvention stützen kann. Außerdem verlangt die Ukraine Zusicherungen und Garantien, dass Russland in Zukunft keine rechtswidrigen Maßnahmen gegen sie ergreifen wird, die auf der falschen Behauptung des Völkermordes beruhen.
Schließlich geht es noch darum, die Schäden, die Russland mit Maßnahmen auf der Grundlage dieser Behauptung verursacht hat, wiedergutzumachen – soweit das überhaupt möglich ist. Der IGH kann grundsätzlich die Verpflichtung zu Reparationszahlungen anordnen, allerdings wären diese aufgrund der Beschränkung des Verfahrens auf Verletzungen der Völkermordkonvention wohl ebenfalls beschränkt.
Wird die russische Delegation erscheinen?
Russland versucht, das Verfahren vor dem IGH zu delegitimieren und hält es für unzulässig. Die erste interessante Frage wird sein, ob die russische Delegation am Montag im Friedenspalast in Den Haag überhaupt erscheinen wird. Bei der Anhörung im Eilverfahren fehlte von ihr jede Spur, kurzfristig hatte der russische Botschafter in den Niederlanden, Alexander Schulgin, dem IGH das Fernbleiben mitgeteilt.
Allerdings hat Russland sich diesmal schon inhaltlich geäußert und vorgängige prozessuale Einreden (preliminary objections) gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofes und die Zulässigkeit der Klage erhoben. Diese Einreden sind Gegenstand der Anhörungen, die an fünf Tagen im September stattfinden werden. In einem solchen Fall wird das Verfahren in der Hauptsache nach Art. 79bis der IGH-Verfahrensordnung bis zur Entscheidung über die Einreden ausgesetzt.
Was genau Russland moniert, wird erst nach den Anhörungen bekanntwerden. Art. 53 der Verfahrensordnung schreibt vor, dass Kopien der Schriftsätze und Unterlagen erst bei oder nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung veröffentlicht werden dürfen.
Russland: IGH ist nicht zuständig
Schon im Vorfeld der Verhandlung im Eilverfahren hatte Russland die fehlende Zuständigkeit des IGH gerügt. Eigentlich drehe sich der Streit nicht um die Völkermordkonvention, sondern um das völkerrechtliche Gewaltverbot, das in der UN-Charta, aber nicht in der Konvention enthalten sei. Grundlage der Militäraktionen gegen die Ukraine sei das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 der UN-Charta sowie Völkergewohnheitsrecht. Zwar habe Wladimir Putin in seiner Rede im Februar 2022 von einem Völkermord im Donbass gesprochen, die Völkermordkonvention aber nicht erwähnt. Das sei nicht gleichzusetzen mit dem Vorliegen einer Streitigkeit im Rahmen der Konvention, wie Art. IX es erfordere, denn der Begriff des Völkermordes existiere im Völkergewohnheitsrecht unabhängig von der Konvention. Das reiche nicht aus, um eine Zuständigkeit nach Art. IX zu bejahen.
Es ist zweifelhaft, dass der IGH dieser Auffassung folgen wird. In der Eilentscheidung hatte er die sogenannte prima-facie-Zuständigkeit, das heißt die Zuständigkeit "auf den ersten Blick", die in diesem Stadium ausreicht, bejaht. In verschiedenen Stellungnahmen hätten sich russische Staatenvertreter "hinreichend deutlich auf den Gegenstand der Völkermordkonvention" bezogen. Diese Erklärungen ließen erkennen, dass die Meinungen darüber auseinandergehen, ob bestimmte Handlungen der Ukraine in den Regionen Luhansk und Donezk als Völkermord bezeichnet werden können.
Der Ukraine-Krieg vor internationalen Gerichten
Schon am 16. März 2022, kaum drei Wochen nach Beginn der russischen Invasion, hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Eilverfahren entschieden, dass Russland die militärischen Operationen in der Ukraine sofort einstellen muss. Russland verstößt gegen diese Entscheidung.
Der IGH ist der Gerichtshof der Vereinten Nationen, mit Sitz im Friedenspalast in Den Haag. Vor dem IGH können nur Staaten als Partei auftreten. Die Ukraine hatte sich an den IGH gewandt, nachdem der russische Präsident Wladimir Putin von einem "Völkermord" an Russinnen und Russen in der Ostukraine sprach, was offenbar einen Vorwand für den Krieg liefern sollte. Mit ihrer Klage wehrt sich die Ukraine gegen diese Behauptung. Nach dem Eilverfahren muss der IGH nun in der Hauptsache entscheiden.
Eine der zentralen Fragen ist dabei die Zuständigkeit des IGH. Weder Russland noch die Ukraine haben sich grundsätzlich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen, beide Staaten sind aber Mitglied der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948, in der vorgesehen ist, dass der IGH über Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Konvention entscheidet. Die internationale Aufmerksamkeit ist groß, 32 Staaten, darunter auch Deutschland, haben zulässige Interventionserklärungen abgegeben, mit denen sie Interesse an der Klärung der Streitigkeit bekunden – so viele wie nie zuvor.
Seit Juni 2023 wird in einem weiteren Verfahren verhandelt: Die Ukraine wirft Russland vor, pro-russische Rebellen auf ukrainischem Gebiet zu unterstützen und damit gegen das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus und gegen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung zu verstoßen. Der IGH kann seine Entscheidungen nicht durchsetzen, wenn die unterlegene Partei sie nicht befolgt. Er kann den UN-Sicherheitsrat anrufen, dort besitzt jedoch Russland ein Vetorecht.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat im März 2023 Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und gegen die russische Kommissarin für Kinderrechte, Maria Aleksejewna Lwowa-Belowa, erlassen. Es ist erst das zweite Mal, dass der IStGH einen Haftbefehl gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt erlässt, der erste erging 2009 gegen den sudanesischen Diktator Omar Al-Bashir. Die Vorverfahrenskammer des IStGH geht davon aus, dass Putin und Lwowa-Belowa dafür verantwortlich sind, dass ukrainische Kinder nach Russland verschleppt wurden. Sie wirft ihnen das Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung bzw. Überführung nach Art. 8 Abs. 2 lit. a Ziff. vii sowie Art. 8 Abs. 2 lit. b Ziff. viii des Römischen Statuts von 1998 (Rom-Statut) vor.
Der IStGH ist aber kein Gericht der Vereinten Nationen. Seine vertragliche Grundlage ist das Rom-Statut, dem mittlerweile 123 Staaten angehören.
Russland ist kein Mitglied des Rom-Status und erkennt den IStGH nicht an. Die Ukraine hat das Rom-Statut ebenfalls nicht unterzeichnet, erkennt jedoch die Zuständigkeit des IStGH für die Verfolgung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Ukraine für den Zeitraum seit November 2013 an. Zahlreiche Vertragsstaaten haben sich für die Aufnahme von Ermittlungen durch den IStGH ausgesprochen.
Eine Anklage vor dem IStGH richtet sich nicht gegen den Staat als solches, sondern gegen einzelne Personen. Der IStGH kann aber nicht alle potenziellen Täter verfolgen, er konzentriert sich auf die Hauptverantwortlichen. Liegt ein Haftbefehl vor, droht dem Beschuldigten in allen Vertragsstaaten, also in mehr als 120 Ländern, die Festnahme. Auf eine etwaige Immunität als Staatsoberhaupt kommt es dabei nach Auffassung von Völkerrechtlern nicht an. Auch wenn eine Festnahme Putins nicht absehbar ist, zeigt der Haftbefehl eine politische Wirkung. So sagte Putin seine Reise zum Brics-Gipfel in Südafrika ab, denn das Land wäre nach dem Rom-Statut verpflichtet gewesen, ihn festzunehmen.
Der Angriffskrieg Russlands ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Das Gewaltverbot gehört zum Völkergewohnheitsrecht und ist in Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen normiert. Seit 2018 kann der IStGH auch wegen des Verbrechens der Aggression gegen einzelne Personen – auch Staatsoberhäupter – vorgehen. Allerdings gilt hier eine besonders hohe Hürde: Der Ankläger kann nur ermitteln, wenn der UN-Sicherheitsrat den Fall vorlegt. Da Russland im Sicherheitsrat ein Veto-Recht hat, wird es dazu nicht kommen.
Nach anderen massiven Konflikten, in denen es auch um Völkermord ging – etwa in Ruanda und in Jugoslawien – haben die Vereinten Nationen Sonderstrafgerichte eingerichtet. Damals war sich aber der Sicherheitsrat einig. Um eine Strafverfolgung unabhängig vom Sicherheitsrat möglich zu machen, wären langfristige politische und rechtliche Änderungen notwendig, etwa eine Stärkung der Generalversammlung der UN. Derzeit ist keine Lösung absehbar.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich für ein "Sondertribunal" ausgesprochen, das auf ukrainischem Recht beruhen sollte, zugleich aber international unterstützt werden. An diesem Vorstoß gab es deutliche Kritik, unter anderem der EU-Justizkommissar Didier Reynders, Vertreter mehrere EU-Mitgliedstaaten und Völkerrechtler hatten Baerbock dafür kritisiert. Ihr Hauptargument ist, dass die internationale Gemeinschaft die Strafverfolgung in die Hand nehmen müsse, nicht einseitig die Ukraine.
Auch die deutschen Behörden können Kriegsverbrechen in der Ukraine verfolgen. Der Generalbundesanwalt hat ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren aufgenommen, das heißt die Behörde sammelt Informationen zu Völkerrechtsverbrechen in der Ukraine, die später in Strafverfahren gegen einzelne Verantwortliche verwendet werden können. Dabei soll die Zusammenarbeit mit anderen westlichen Staaten abgestimmt werden.
Nach dem Weltrechtsprinzip können einzelne Staaten Straftaten gegen das Völkerrecht verfolgen – das heißt, dass deutsche Behörden auch dann einschreiten können, wenn die Taten im Ausland begangen wurden und weder Opfer noch Täter Deutsche sind. Das Völkerstrafgesetzbuch stellt unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen unter Strafe. Das Verbrechen der Aggression, also ein Angriffskrieg, kann allerdings nur geahndet werden, wenn ein Bezug zu Deutschland vorliegt.
Wie sich in der Vergangenheit in Fällen etwa zu Kriegsverbrechen im Kongo und zu Menschenrechtsverbrechen des Islamischen Staats gezeigt hat, können solche Ermittlungen durchaus zu Verurteilungen führen.
32 Staaten durften intervenieren – die USA nicht
Auch im Zusammenhang mit den Interventionserklärungen hatte Russland Einreden erhoben. Insgesamt 33 Staaten haben solche Erklärungen abgegeben, darunter alle EU-Staaten mit Ausnahme von Ungarn sowie Neuseeland, Norwegen, das Vereinigte Königreich, die USA, Australien und Kanada.
Unter anderem hatte Russland sich darauf berufen, die Interventionserklärungen seien nicht "echt", denn Ziel sei es nicht, die Völkermordkonvention auszulegen, sondern den Fall gemeinsam mit der Ukraine zu verfolgen. Deshalb würden die Staaten de facto zu Mitantragstellern.
Diesen Einwand ließ der IGH allerdings nicht gelten. Die Prüfung der Zulässigkeit einer Interventionserklärung beschränke sich auf die Feststellung, ob sich die Erklärung auf die Auslegung eines für das Verfahren maßgeblichen Vertrages bezieht. Die Beweggründe für die Intervention seien irrelevant. Der IGH hielt die Interventionen von 32 Staaten deshalb für zulässig.
Unzulässig ist dagegen die Intervention der USA. Diese haben einen Vorbehalt in Bezug auf Artikel IX der Völkermordkonvention, auf den sich die Ukraine bezieht, abgegeben, das heißt die Rechtswirkungen dieser Klausel für sich ausgeschlossen. Deshalb haben sie auch kein rechtliches Interesse, an der Auslegung mitzuwirken, so der IGH.
Wie es weitergeht
Die Anhörungen finden zwischen dem 18. und dem 27. September statt. Zunächst werden Russland und die Ukraine ihre Positionen darlegen, bevor die intervenierenden Staaten ihre Stellungnahmen abgeben. In einer zweiten Anhörungsrunde erhalten dann nur noch Russland und die Ukraine das Wort. Danach wird der IGH eine Entscheidung über die Einreden Russlands und die Zulässigkeit der Klage treffen. Bis zu einem Urteil in der Sache kann es also noch dauern.
Ist einem anderen Verfahren zwischen der Ukraine und Russland ist man da schon weiter: Die Ukraine wirft Russland wegen der Vorgänge in der Ostukraine seit dem Jahr 2014 Staatsterrorismus vor. Die Zuständigkeit des IGH ergibt sich ebenfalls aus Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 IGH-Statut, in diesem Fall u.a. in Verbindung mit Art. 24 des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus. Die Klage wurde bereits 2017 eingereicht, also lange vor Beginn des Angriffskrieges im vergangenen Jahr. Die Anhörungen sind abgeschlossen. Wann ein Urteil verkündet wird, steht allerdings noch nicht fest.
Mit der Frage, ob Russland einen Völkermord in der Ukraine begeht, befasst sich der IGH bislang noch nicht ausdrücklich. Die Nichtregierungsorganisation Raoul Wallenberg Centre for Human Rights sieht in einer Studie jedenfalls eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür. Die Hürden, das "Verbrechen der Verbrechen", insbesondere die genozidale Absicht, nachzuweisen, sind jedoch hoch.
IGH verhandelt Klage der Ukraine gegen Russland: . In: Legal Tribune Online, 16.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52717 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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