Der IGH verhandelt über die Klage der Ukraine gegen Russland wegen eines Völkermordvorwurfs. Am ersten Tag positionierte Russland sich deutlich: Die Rechtsposition der Ukraine sei "hoffnungslos fehlerhaft" und der IGH nicht zuständig.
Es war das erste Mal, dass Russland sich im Verfahren gegen die Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) äußerte. Von Zurückhaltung in der Wortwahl gab es keine Spur. Der stellvertretende russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gennadi Kusmin, erklärte am ersten Tag der Anhörung in Den Haag, Russland sei "stets ein starker Unterstützer der Völkermordkonvention" gewesen. 2014 hatten prorussische Separatisten die ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk als unabhängige "Volksrepubliken" proklamiert, die Ukraine habe in diesem Zusammenhang dort einen Krieg angezettelt. Der Vertreter Moskaus wiederholte zudem Behauptungen, wonach die Politik der Ukraine von "Neonazis" bestimmt werde.
Auch zum konkreten Verfahren nahm Kusmin Stellung: "Die Ukraine wirft Russland nicht vor, Völkermord zu begehen. Die Ukraine wirft Russland auch nicht vor, Völkermord nicht verhindert oder bestraft zu haben. Im Gegenteil, die Ukraine sagt, dass im Donbass kein Völkermord passiert." Wenn es keinen Völkermord gibt, könne es auch keine Verletzung der Völkermordkonvention geben, so Kusmin.
Die Ukraine stützt ihre Klage auf den von russischer Seite erhobenen Vorwurf, sie begehe einen Völkermord im Donbass. Dieses Argument nutzt Russland auch als Rechtfertigung für den seit anderthalb Jahren andauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Mit der Klage will die Ukraine dieser Argumentation den Boden entziehen.
Konkret möchte die Ukraine vor dem IGH die Feststellung erreichen, dass sie in Luhansk und Donezk keinen Völkermord begeht und Russland dementsprechend auch die "besondere militärische Operation" auf ukrainischem Territorium nicht auf eine Verletzung der Völkermordkonvention stützen kann. Russland hat gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofes sowie die Zulässigkeit der Klage sogenannte vorgängige prozessuale Einreden (preliminary objections) erhoben. Bei der Anhörung am Montag bekam zunächst Russland die Möglichkeit, seine Argumente vorzubringen.
Russland: Keine Streitigkeit über Völkermordkonvention
Russland hält den IGH im konkreten Fall für unzuständig. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben sich nicht generell der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen, sodass die Ukraine einen "Umweg" wählte: Art. IX der Völkermordkonvention legt den IGH als zuständiges Gericht für Streitigkeiten über die Anwendung und Erfüllung der Konvention zwischen Vertragsstaaten – sowohl Russland als auch die Ukraine zählen dazu – fest.
Maßgebliche Zulässigkeitsfrage wird sein, ob hier eine solche Streitigkeit vorliegt. Nach Ansicht Russlands ist das nicht der Fall. Die Ukraine müsse eine konkrete Verpflichtung aus der Völkermordkonvention nennen, gegen die Russland verstoßen habe. Laut russischem Vertreter habe die Ukraine gerade das nicht getan. Ebenso habe die Ukraine Russland vor der Klage nicht auf eine mögliche Verletzung der Völkermordkonvention hingewiesen, wie es die Rechtsprechung allerdings erfordere.
Russland: Rechtsposition der Ukraine "hoffnungslos fehlerhaft"
In Wirklichkeit, so Russlands Vertreter, gehe es nicht um eine Verletzung der Völkermordkonvention, sondern um einen Verstoß gegen das Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 UN-Charta. Rechtfertigung für die "militärische Spezialoperation" seit dem 24. Februar 2022 sei in diesem Zusammenhang das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta. Einen solchen Fall vor den IGH zu bringen, verstoße gegen das Konsensprinzip, schließlich habe Russland gegenüber dem IGH keine Unterwerfungserklärung abgegeben.
Ein so weites Verständnis des Art. IX der Völkermordkonvention führe dazu, dass Staaten den IGH bei sämtlichen Streitigkeiten, die eigentlich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, anrufen könnten. Die Rechtsposition der Ukraine sei "hoffnungslos fehlerhaft" und stehe im Widerspruch zur langjährigen Rechtsprechung, so der russische Vertreter vor dem IGH. Kiew versuche, den Gerichtshof mit falschen Anschuldigungen zu missbrauchen.
Zudem verlange die Ukraine eine negative Feststellung, nämlich dass sie im Donbass keinen Völkermord begeht. Für solche Feststellungen sei der IGH aber nicht zuständig.
Am Dienstag erhält Ukraine das Wort
Es bleibt abzuwarten, wie der IGH sich zu dieser Zuständigkeitsfrage positionieren wird. Gleichzeitig mit der Klage hatte die Ukraine einen Eilantrag eingereicht. In der Eilentscheidung im März 2022 hatte der IGH unter anderem angeordnet, dass Russland sofort die militärischen Operationen auf ukrainischem Territorium einstellen muss. Dabei hatte der Gerichtshof die sogenannte Prima-facie-Zuständigkeit, das heißt die Zuständigkeit auf den ersten Blick, die in diesem Stadium ausreicht, angenommen. In verschiedenen Stellungnahmen hätten sich russische Staatenvertreter "hinreichend deutlich auf den Gegenstand der Völkermordkonvention" bezogen, so der IGH weiter. Daher gingen die Meinungen Russlands und der Ukraine auseinander, ob bestimmte Handlungen der Ukraine in den Regionen Luhansk und Donezk als Völkermord bezeichnet werden können.
Im Hauptsacheverfahren wird der IGH die Entscheidung über seine Zuständigkeit wohl ausführlicher begründen müssen. Die Ukraine wird von einer Rekordzahl von 32 anderen Staaten unterstützt, darunter auch Deutschland. Die Vertreter dieser Staaten sollen am Mittwoch angehört werden.
Zunächst erhält die Ukraine aber am Dienstag das Wort. Nach Einschätzung von Experten kann sich das Verfahren über Jahre hinziehen.
Mit Materialien der dpa
Verhandlung zur Klage der Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52729 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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