Der GBA teilt LTO mit, keinen Anfangsverdacht für Völkermord in der Ukraine zu sehen. Doch Russland will die "De-Ukrainisierung" und handelt entsprechend. Patrick Heinemann analysiert die Sach- und Rechtslage und sieht Handlungsbedarf.
Putins Militär tötet in der Ukraine zahllose Zivilisten, ukrainische Kinder werden zu Tausenden nach Russland verschleppt und von Russen zwangsadoptiert, um sie zu russifizieren. Russlands Propagandakanäle sprechen seit Langem offen von einer "De-Ukrainisierung".
Könnte also das, was Russland in der Ukraine praktiziert, nicht nur ein verbrecherischer Angriffskrieg, sondern auch ein Völkermord sein? Die Antwort des Generalbundesanwalts lautet derzeit: Nein. Auf Anfrage von LTO teilte die zuständige oberste deutsche Strafverfolgungsbehörde aus Karlsruhe mit, dass sich das dort wegen der Kriegsverbrechen in der Ukraine geführte Strukturermittlungsverfahren bislang nicht auf den Verdacht des Völkermords erstreckt. Die beim BGH ansässigen Ermittler sehen hierfür aktuell keinen Anfangsverdacht. Der aber wäre die Voraussetzung dafür, um im Rahmen des Strukturermittlungsverfahrens gezielt auch in diese Richtung Beweise für spätere Strafverfahren gegen Einzelpersonen zu sammeln, eventuell vor einem internationalen Tribunal.
Ursprünglichen Anlass für die LTO-Anfrage gab der Vortrag eines Vertreters des Generalbundesanwalts auf der diesjährigen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht an der FU Berlin am 22. September. Staatsanwalt Dr. David Bäuerle, der am Strukturermittlungsverfahren verantwortlich mitwirkt, begründete die Haltung des Generalbundesanwalts dort auf eine Frage aus dem Publikum hin im Wesentlichen damit, man sehe auf Seiten der Russischen Föderation keine hinreichenden Anhaltspunkte für die vom Völkermordtatbestand vorausgesetzte Absicht, die Ukrainer als nationale oder ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.
Kriegsverbrechen und Völkermord sind verschiedene Dinge
Gleichzeitig mehren sich die prominenten Stimmen, die für einen solchen Völkermord zumindest Anhaltspunkte sehen, wie etwa der in Yale lehrende Historiker Timothy Snyder. Er sprach jüngst auf einem Panel der Helsinki Commission des US-Kongresses, die inzwischen auch von einem russischen Völkermord in der Ukraine auszugehen scheint. Auch die Untersuchung des Kriegsgeschehens durch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs schließt die Möglichkeit eines Völkermords explizit ein. Teilweise wird die öffentliche Debatte dadurch erschwert, dass Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid häufig in einen Topf geworfen werden. Sie gehören zwar allesamt zum Völkerstrafrecht und sind im deutschen Recht folgerichtig im Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) geregelt. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Materien:
Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen die Regeln des Humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten (§§ 8 bis 12 VStGB). Erst im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (1945–1949) brach sich endgültig das Verständnis Bahn, dass es sich bei schweren Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Kriegs (ius in bello) um kriminelles Unrecht handelt. Zuvor galt lange Zeit der Grundsatz inter arma enim silent leges (denn unter den Waffen schweigen die Gesetze).
Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederum geht es um ausgedehnte und systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung (§ 7 VStGB), wie sie Russland aktuell mit der Zerstörung der lebensnotwendigen zivilen Infrastruktur (insbesondere Strom, Wasser und Heizung) vor allem in ukrainischen Ballungsräumen praktiziert, in deren Folge eine Vielzahl von Menschen getötet (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB) und mit Blick auf den Wintereinbruch bald auch unter teils lebensbedrohliche Bedingungen gestellt werden könnten (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 VStGB).
Doch nach dem normativen Verständnis des Völkerstrafrechts gelten solche Verbrechen noch nicht als die Spitze des Eisbergs: Das crime of all crimes ist vielmehr der Völkermord (§ 6 VStGB). Als Völkerrechtsverbrechen anerkannt wurde der Genozid mit der UN-Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948. Der darin verankerte und bis heute maßgebliche Völkermordtatbestand geht auf den polnischen Juristen Raphael Lemkin (1900–1959) zurück, der die Verbrechensdefinition vor allem unter dem Eindruck der Vernichtung der Armenier (1915–1916) und der europäischen Juden (1941–1945) entwickelt hatte.
Völkermord beginnt nicht erst bei physischer Vernichtung
Doch Vergleiche mit historischem Unrecht wie dem dem unlängst vom Bundestag als Völkermord anerkannten Holodomor in der Ukraine oder gar dem Holocaust sind für eine völkerstrafrechtliche Bewertung, die an einer sauberen Subsumtion von Tatbeständen nicht vorbeikommt, wenig hilfreich. In Deutschland setzt § 6 Abs. 1 VStGB die UN-Völkermordkonvention in nationales Recht um. Für nicht wenige Menschen überraschend beginnt Genozid im Rechtssinne nicht erst bei der industriellen, physischen Vernichtung einer Volksgruppe oder zumindest einer großen Anzahl ihrer Mitglieder.
Völkermord liegt nach § 6 Abs. 1 VStGB vielmehr vor, wenn jemand in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, ein Mitglied der Gruppe tötet (Nr. 1), einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 StGB bezeichneten Art, zufügt (Nr. 2), die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (Nr. 3), Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen (Nr. 4), oder ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt (Nr. 5).
Hierbei springt als erstes ins Auge, dass die Zerstörung der jeweiligen Gruppe als solcher (oder eines Teils von ihr) im Sinne eines Taterfolgs überhaupt nicht zum objektiven Tatbestand gehört, sondern die entsprechende Absicht lediglich Bestandteil des subjektiven Tatbestands ist.
Generalbundesanwalt interpretiert Gesetz eng und ermittelt nicht
Schaut man sich die fünf Varianten des objektiven Tatbestands näher an, sticht dabei mit Blick auf Russlands Vorgehen in der Ukraine nicht nur die Tötung von Menschen (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB), sondern vor allem der Tatbestand der systematischen Kindesentziehung (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 VStGB) ins Auge. Dass die russischen Invasoren ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten zu Tausenden nach Russland deportieren und dort zwangsadoptieren lassen, ist alles andere als ein Geheimnis:
Das wird nicht nur zur besten Sendezeit auf Propagandakanälen des Kreml gezeigt, sondern ist auch in Berichten des UN-Menschenrechtskommissars und von Amnesty International zu lesen. Dabei handelt es sich mitnichten nur um Waisen, sondern auch um Kinder, die ihren Eltern in sogenannten Filtrationszentren entrissen in entlegenste östliche Gebiete der Russischen Föderation verschleppt werden.
Umso erstaunlicher ist, dass der zuständige Generalbundesanwalt hier noch nicht einmal einen Anfangsverdacht sehen will. Der scheitert aus Karlsruher Sicht vor allem an fehlenden Anhaltspunkten für die von § 6 Abs. 1 VStGB vorausgesetzte Absicht, durch die Tathandlung eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Doch ist das wirklich überzeugend? Was unter der beabsichtigten Zerstörung im Sinne von § 6 Abs. 1 VStGB zu verstehen ist, ist zum Teil heftig umstritten und völkerstrafrechtlich noch nicht abschließend geklärt. Nach der tradierten internationalen Auffassung und Spruchpraxis soll die Absicht der physischen Vernichtung erforderlich sein, um ein Ausufern der Strafbarkeit zu verhindern und den Genozidtatbestand auf schwerstes Unrecht zu begrenzen.
Soziale oder physische Zerstörungsabsicht?
Deutschsprachige Literatur und Rechtsprechung neigen dagegen dem Verständnis zu, dass hierfür die Zerstörung der Gruppe in ihrer sozialen Existenz ausreicht. Dafür sprechen zum einen der Wortlaut des § 6 Abs. 1 VStGB („Gruppe als solche“), zum anderen die in § 6 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 VStGB genannten objektiven Begehungsvarianten, die einen physischen Vernichtungserfolg gerade nicht voraussetzen und bei dem Erfordernis einer darauf gerichteten Absicht mehr oder weniger leer liefen. Diese Auffassung erfährt nun auch im internationalen Schrifttum wachsenden Zuspruch, worauf der Völkerstrafrechtler und Ad-hoc-Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH) Claus Kreß (Universität Köln) in der aktuellen 4. Auflage (2022) des Münchener Kommentars zum StGB hinweist.
Seiner Ansicht nach ist die Zerstörungsabsicht bereits dann gegeben, wenn die Tathandlung darauf abzielt, dass die jeweilige Gruppe oder ein erheblicher Teil von ihr nicht länger entsprechend ihrer spezifischen Identität kulturell schöpferisch tätig sein kann, also ihre spezifische Identität zerstört ist. Für ein solches Verständnis dürfte schließlich auch sprechen, dass es bei Völkermord dem Schutzzweck nach eben um etwas anderes geht als um einen Massenanfall von Tötungsdelikten, nämlich den Bestand nationaler, rassischer, religiöser oder ethnischer Gruppen und deren Vielfalt. Dabei reicht es nach dem Genozidtatbestand, wenn sich die Absicht darauf richtet, die jeweilige Gruppe „teilweise“ zu zerstören. Gemeint ist damit ein erheblicher Teil der Gruppe, wobei sich die Erheblichkeit nach quantitativen wie qualitativen Kriterien bestimmt. Maßgeblich kommt es darauf an, ob mit der beabsichtigten teilweisen Zerstörung eine spürbare Schwächung der Gesamtgruppe bezweckt wird.
Anhaltspunkte für Genozid durch Russland
Geht man von einem sozialen Zerstörungsbegriff aus, dürfte es keinen Mangel an Anhaltspunkten für einen von russischer Seite betriebenen Genozid in der Ukraine geben. Timothy Snyder (Yale University) weist seit Langem darauf hin, dass die offizielle russische Rhetorik schon vor Jahren begonnen hat, der Ukraine ihre Eigenstaatlichkeit und kulturelle sowie nationale Identität abzusprechen.
Auch Franziska Davies, Osteuropa-Historikerin an der LMU München, zeigt sich gegenüber LTO davon überzeugt, dass es sich hier um einen genozidalen Krieg handelt: „Schon vor dem 24. Februar sprach Putin der Ukraine eine eigene Identität, Kultur und Geschichte ab. Er sieht ihre Existenz als historischen Fehler und seit Monaten rufen in den Staatsmedien seine Propagandist:innen offen zur Auslöschung der Ukraine auf.“ So stellte Putin etwa in einem im Juli 2021 veröffentlichen und auch außerhalb Russlands viel beachteten Essay "Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern" die Existenz des südlichen Nachbarn als eigene Nation in Frage. Nach Ansicht von Davies folgt auch die russische Politik in den besetzten Gebieten einer Vernichtungsabsicht:
"Es geht um nichts weniger als um die Zerstörung der Ukraine als Staat und Nation"
"Die gewaltsame Russifizierung des öffentlichen Raums und des Bildungswesens, die gezielte Verfolgung nationaler Eliten, die gezielte Zerstörung ukrainischer Kulturgüter, die Verschleppung ukrainischer Kinder zwecks Russifizierung – aus meiner Sicht ist die Sachlage sogar eindeutiger als im Falle des Holodomor. Denn dieser war zunächst eine Folge der Zwangskollektivierung in der Sowjetunion und erst als der Hunger bereits ausgebrochen war, nutzte Stalin diesen gezielt um mit einer genozidalen Politik der Ukraine das nationale Rückgrat zu brechen. Dieser Krieg ist aber von vornherein mit dieser Absicht losgetreten, es geht um nichts weniger als um die Zerstörung der Ukraine als Staat und Nation", so die Ostereuropawissenschaftlerin.
In der Tat wird man sich auch die Frage stellen müssen, was Russland mit dem massenhaften Kidnappen und Deportieren ukrainischer Kinder anderes bezwecken will als die zumindest teilweise Zerstörung der Ukrainer als nationale Gruppe. Denn mit systematischen Kindesentziehungen wird die jeweilige Gruppe auch in ihrer Reproduktionsfähigkeit getroffen, worauf Claus Kreß in seiner Kommentierung zum Genozidtatbestand hinweist. Gerade vor diesem Hintergrund gab auch der Völkerrechtler und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Andreas Paulus (Göttingen) unlängst gegenüber dem Spiegel an, Anhaltspunkte für einen Völkermord in der Ukraine zu erkennen.
Folgen bei Völkermord: Strafverfolgung und Unterstützungspflichten
Doch welche Bedeutung hat es, ob in der Ukraine neben Kriegsverbrechen auch ein Völkermord begangen wird? Zum einen könnte das für den Genozidtatbestand sowohl in Deutschland als auch regelmäßig international maßgebliche Weltrechtsprinzip (§ 1 VStGB) eine Strafverfolgung gegen Wladimir Putin und anderen Kreml-Repräsentanten ermöglichen. Völkerrechtlich schützt Wladimir Putin aktuell zwar seine absolute persönliche Immunität als Staatsoberhaupt. Nach seinem Ausscheiden aus dem höchsten Staatsamt wird er jedoch nur noch eine funktionelle Immunität genießen, und es spricht viel dafür, dass diese Form der Immunität im Falle schwerster Völkerrechtsverbrechen durchbrochen werden kann. Jedenfalls vor internationalen Tribunalen werden solche Ausnahmen zunehmend anerkannt, worauf Dr. Christian Schaller in einer ausführlichen Studie über Optionen der Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen im Krieg gegen die Ukraine für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hinweist.
Zum anderen könnte die Bewertung des russischen Vorgehens in der Ukraine als Völkermord weitreichende Folgen haben, die über die Möglichkeit einer späteren Verfolgung und gegebenenfalls Bestrafung von Einzelpersonen hinausgehen. So ließe sich daraus nach dem Prinzip der responsibility to protect (R2P), zu der sich die Staatengemeinschaft in der Abschlusserklärung des UN-Weltgipfels 2005 bekannte, ein Schutzauftrag gegenüber der ukrainischen Bevölkerung ableiten. Diese kann – je nach Ansicht – bis zur Legitimation auch militärischer Interventionen reichen. Auf diese Verantwortung der Staatengemeinschaft pocht etwa Ex-Grünen-Politiker Ralf Fücks, der den Think Tank Zentrum Liberale Moderne (Berlin) leitet.
Holodomor als Völkermord anerkennen und jetzt nicht mal ermitteln
Ob sich jemand letztlich wegen Völkermords in der Ukraine strafrechtlich verantworten muss, kann nur durch Ermittlungen geklärt werden – die beim Generalbundesanwalt aber bislang ausbleiben. Dass die oberste deutsche Strafverfolgungsbehörde den Völkermordvorwurf aus ihrem Strukturermittlungsverfahren ausklammert, ist auch deshalb erklärungsbedürftig, weil sich die Ermittlungen der Anklagebehörde beim Internationalen Strafgerichtshof auf diese Frage ausdrücklich erstrecken. Auf den Holodomor der frühen 1930er Jahre, den der Deutsche Bundestag jüngst als Völkermord anerkannte, folgte in der Ukraine ab 1941 der von Deutschland verbrochene Holocaust. Es wäre deshalb auch vor der Geschichte unverantwortlich, wenn deutsche Strafverfolgungsbehörden bei einem Genozidverdacht in der Ukraine nicht so genau hinsähen.
Generalbundesanwalt sieht keinen Anfangsverdacht: . In: Legal Tribune Online, 06.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50373 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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