Am Berliner Kreuzberg steht seit kurzem eine Gedenkstele, die an die Kreuzbergurteile aus Preußenzeiten erinnert. Warum wir im öffentlichen Raum gerichtlichen Entscheidungen gedenken sollten, erklärt der Initiator Dr. Timur Husein.
Der gebürtige Kreuzberger und Staatsrechtler Dr. Timur Husein ist Dozent an der Verwaltungsakademie Berlin und setzte sich dafür ein, dass eine Gedenkstele errichtet wird, um an die Berliner Kreuzbergurteile zu erinnern. Als Bezirksverordneter (CDU) in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg initiierte er einen Antrag, um ein Gedenkzeichen zu schaffen.
LTO: Herr Dr. Husein, weshalb ist es Ihnen wichtig, dass eine Gedenkstele am Berliner Kreuzberg an eine 140 Jahre alte Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts erinnert?
Dr. Timur Husein: Die beiden Entscheidungen, die unter dem Namen Kreuzbergurteile bekannt sind, stellen Meilensteine auf dem Weg zu unserem heutigen Rechtsstaat dar. Mit den Urteilen wurden rechtsstaatliche Grundsätze, wie die Gewaltenteilung oder die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung konkretisiert. Heute sind sie im Grundgesetz fest verankert und für uns selbstverständlich. Ich denke, dass ist aller Ehre und zumindest eine Gedenkstele wert.
Woher kommt Ihre Begeisterung für diese historischen Urteile?
Ich habe als Staatsrechtler eine Vorliebe für Geschichte und Preußen und bin vom Sachverhalt dieser Entscheidungen fasziniert. Ein Bauherr, manche würden heute wohl Investor sagen, will damals am Kreuzberg Wohngebäude bauen, um damit viel Geld zu verdienen. Damals herrschte in Berlin, wie auch heute, akute Wohnungsnot. Im Jahr 1877, also drei Jahre vor dem Bauantrag, lebten zum ersten Mal mehr als eine Millionen Menschen in Berlin.
Das zuständige Berliner Polizeipräsidium erteilte dem Bauherren für sein Projekt aus angeblich ästhetischen Gründen keine Baugenehmigung.
Dazu muss man wissen, dass auf dem Kreuzberg seit 1821 das von Karl Friedrich Schinkel konzipierte Nationaldenkmal für die Befreiungskriege von 1813 - 1815 zum Andenken an die gefallenen preußischen Soldaten steht. Das Polizeipräsidium war nun der Auffassung, dass die geplanten Wohngebäude die Aussicht auf das Denkmal und somit dem Zweck des Denkmals, „den gegenwärtigen und kommenden Geschlechtern das Andenken an die glorreiche Zeit der Befreiungskriege wach zu erhalten“ beeinträchtigen würden. Der Bauherr klagte. Und gewann vor dem Preußischen Oberverwaltungsgericht. Dieses führte aus, dass die Polizei ausschließlich für die Gefahrenabwehr zuständig sei und dem Bauherren die Baugenehmigung ohne Rechtsgrundlage versagte. Preußischer Rechtsstaat "siegte" über preußischen Militärdünkel.
Warum braucht es Monumente für Gerichtsentscheidungen im öffentlichen Raum?
Für mich muss es nicht gleich ein Monument sein. Unter einem Monument stelle ich mir z.B. das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald vor. Ich persönlich bevorzuge Gedenkstelen, sozusagen ein Gedenken auf Augenhöhe mit den Bürgern.
Völlig unabhängig von der Gedenkform, sollte es in der Öffentlichkeit neben Erinnerungen an bedeutende Personen oder geschichtliche Ereignisse auch Gedenkzeichen für Gerichtsentscheidungen geben. Denn auch diese stärkten und stärken Freiheit, Recht und Demokratie. Die Informationstafeln vermitteln Wissen, das das Verständnis und die Akzeptanz des Rechtsstaats in der Bevölkerung stärken.
Ist die Gedenkstele also das Mittel der Wahl?
Nein, es muss keine Gedenkstele oder Gedenktafel sein. Auch Straßennamen kommen in Betracht. In Deutschland gibt es ca. 450.000 Straßennamen, aber kein einziger erinnert an eine Gerichtsentscheidung.
Natürlich ist eine "Urteil des Ersten Senats vom 16. Januar 1957 – 1 BvR 253/56 – Straße" in vielerlei Hinsicht kein geeigneter Straßenname. Weder passt der Name auf ein Straßenschild, noch dient es der schnellen Orientierung. Wichtige Entscheidungen haben oftmals aber eine griffige Abkürzung. So ist die gerade genannte Entscheidung in der Rechtswissenschaft als Elfes-Urteil bekannt. Eine Elfes-Urteil-Straße oder ein Brokdorf-Beschluss-Boulevard wären somit denkbar.
Und was passiert mit Gerichtsentscheidungen, die an keinen konkreten Ort gebunden sind? Wo finden sich europäische Entscheidungen wieder und wie gedenkt man der Sterbehilfe-Entscheidung des BVerfG?
Für die Gedenkstele muss es nicht immer ein Ort sein, der unmittelbar mit der Gerichtsentscheidung im Zusammenhang steht. Auch Straßennamen oder Orte ohne konkreten Bezug kommen in Betracht, z.B. vor Juristischen Fakultäten. Alternativ könnten Gedenktafeln an Häusern angebracht werden, in denen Personen lebten, die wichtige Entscheidungen in Gang brachten. Wie zum Beispiel der Publizist Erich Lüth. Unvermeidlich wird es aber Entscheidungen geben, derer nicht in der Öffentlichkeit gedacht werden kann. Da geht es Gerichtsentscheidungen nicht anders als vielen ehrenwerten Menschen, für die keine Gedenkstelen aufgestellt wurden.
Wer soll denn entscheiden, welches Urteil bedeutend genug ist? Müssen wir in Zukunft mit hunderten von Stelen rechnen?
Über eine Gedenkstafel oder einen Straßennamen für eine Gerichtsentscheidung entscheiden die Institutionen, die auch sonst verantwortlich sind, meist also die jeweiligen Kommunalvertretungen. Bei der Gedenktafel zu den Kreuzbergurteilen entschied die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg nach Beratungen im Kulturausschuss und der überparteilichen Gedenktafelkommission.
In diesen Institutionen ist genug juristischer und historischer Verstand versammelt, um über die Auswahl zu entscheiden. Ansonsten holt man sich noch externe Berater dazu. In unserem Fall war sogar der Justizsenator beteiligt und plädierte für die Gedenktafel.
Hunderte Stelen werden es wohl nicht werden. Ich rechne mit maximal ein Dutzend Gedenktafeln in den nächsten fünf Jahren, da es bis zur Errichtung der Stelen erfahrungsgemäß ein sehr aufwändiger Prozess ist. Ich persönlich kann aber sagen, dass es sich lohnt hier aktiv zu werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Erinnerungsorte für Gerichtsentscheidungen?: . In: Legal Tribune Online, 20.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49356 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag