Ralph W. hat im NSU-Prozess ein Opfer vertreten, das es nie gab. Die Original-Vollmacht ist derzeit offenbar ebenso unauffindbar wie eine zentrale Zeugin. Das LG Aachen muss ein Urteil im komplexen Umfeld zweier Großverfahren fällen.
Eigentlich ist am Freitag am Landgericht (LG) Aachen wenig passiert. Und doch wurde schon beim Prozessauftakt zu diesem winzigen Ausschnitt aus dem NSU-Verfahren klar, wie Rechtsanwalt Ralph W. aus Eschweiler mehr als zwei Jahre lang vor dem Oberlandesgericht München eine Frau vertreten konnte, die es nie gab.
Die Vorsitzende Richterin der 9. Großen Strafkammer des LG Aachen, Melanie Theiner, stellte nach der Verlesung des Anklagesatzes organisatorische Fragen zum Verfahren, die schnell deutlich machten, vor welchen Schwierigkeiten die Staatsanwaltschaft, aber auch das Gericht steht, wenn es um die Aufklärung von Vorgängen rund um den NSU-Prozess einerseits und das Love-Parade-Verfahren andererseits geht.
Klar scheint derzeit vor allem, wie viel unklar ist: Das reicht von der Originalvollmacht des angeblichen Opfers, die offenbar noch nie jemand gesehen hat, über die Unauffindbarkeit einer zentralen Zeugin bis hin zur Frage, ob der angeklagte Anwalt mittlerweile etwas von den für die Vertretung des nicht existenten Opfers erhaltenen 211.000 Euro zurückgezahlt hat.
StA: Mandantin im NSU-Prozess erfunden
Ralph W. schwieg am Freitag in Aachen. Er trug eine Maske, die im Gerichtssaal nicht verpflichtend war, und blickte stets zu Boden. Über seinen Verteidiger Peter Nickel teilte er mit, dass er sich zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft nicht äußern wird.
Es sind Vorwürfe, die den vorbestraften 52-Jährigen, sollten sich auch nur Teile davon nachweisen lassen, auch seine Zulassung als Anwalt kosten würden. "Die Gesamtwürdigung des Angeschuldigten W. und seiner Taten wird die Gefahr erkennen lassen, dass er bei weiterer Ausübung seines Berufs des Rechtsanwalts erhebliche rechtswidrige Tagen unter Missbrauchs dieses Berufs und unter grober Verletzung der mit ihm verbundenen Pflicht begehen wird", beschloss Oberstaatsanwalt (OstA) Burchard Witte seine Verlesung der Anklage am Freitag.
Die Staatsanwaltschaft Aachen legt W. Betrug und Urkundenfälschung zur Last, weil er im sog. NSU-Prozess mehr als zwei Jahre lang eine angebliche Geschädigte des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße namens Meral Keskin vertreten hat, die tatsächlich nie existiert hat. Er hat dabei Atteste vorgelegt, die offenbar gefälscht waren und tatsächlich von Atila Ö. stammten, der ebenso wie seine Mutter selbst Opfer des Nagelbombenanschlags war.
211.000 Euro für die Vertretung bezogen
W. hat behauptet, Keskin sei von der Polizei vernommen und nach dem Anschlag in ein bestimmtes Kölner Krankenhaus eingeliefert worden. Er schrieb, seine angebliche Mandantin sei im Bundestag vom Bundespräsidenten begrüßt und von der Bundeskanzlerin empfangen worden. Er gab an, in einer NDR-Reportage sei zu sehen, wie sie von zwei Sanitätern versorgt werde. Nichts davon stimmte.
Ab September 2014, als Keskin als Zeugin zum Anschlag des NSU in der Kölner Keupstraße aussagen sollte, kamen die Ladungen des OLG München an ihre Adresse als unzustellbar zurück. Fast ein Jahr lang antwortete W. auf die Nachfragen des Gerichts mit Ausflüchten. Immer wieder versicherte er, die Mandantin lebe an der Kölner Adresse und werde zum nächsten Termin erscheinen. Erst nachdem der Staatsschutzsenat ihn ein Jahr später, Ende September 2015, massiv unter Druck setzte, teilte er Anfang Oktober mit, durch Zufall einen Tag zuvor herausgefunden zu haben, dass "Frau K." nie existiert habe.
Für die Vertretung von Keskin an rund 230 Verhandlungstagen zwischen 2013 und 2015 hat W. vom Staat 25 Vorschusszahlungen in Höhe von insgesamt über 211.000 Euro für Gebühren, Auslagen, Reisekosten und Mehrwertsteuer erhalten. Hinzu kommt eine Pauschalzahlung von 5.000 Euro aus dem Opferfonds der Bundesregierung, die der Anwalt für das angebliche Opfer beantragt und erhalten hat.
Die Strafverfolger gehen von einem vorsätzlichen Betrug aus. Ralph W. bestreitet, vor dem Herbst 2015 gewusst zu haben, dass es die Mandantin, zu der der Kontakt fast nur über einen Mittelsmann gelaufen sei, gar nicht gab. Er habe Strafanzeige erstattet gegen diesen angeblichen Mittelsmann Atila Ö., weil der ihn über die Existenz von Keskin getäuscht habe. Atila Ö. hat W. das angebliche Mandat gegen ein "Vermittlungshonorar" besorgt und sollte laut Staatsanwaltschaft auch in der Folge an den Zahlungen vom Staat für die Beiordnung W.s beteiligt werden.
Loveparade-Prozess: Verletzungen erfunden, Dokumente gefälscht
Auch im Loveparade-Prozess vor dem LG Duisburg wollte W. sich als Nebenklagevertreter für einen Geschädigten bestellen lassen, bezahlen sollte auch hierfür der Staat. Sein Mandant aber litt gar nicht unter irgendwelchen Nachwirkungen der Katastrophe in Duisburg. Das habe W. gewusst, so die Staatsanwaltschaft.
Als sich abzeichnete, dass er kein aussagekräftiges Attest würde vorlegen können, reichte W. eidesstattliche Versicherungen von Mutter und Schwester des angeblich Geschädigten ein, die er vorformuliert und zu deren Abgabe er die beiden aufgefordert haben soll. Beide behaupteten darin u.a., dass der angebliche Geschädigte seit der Loveparade-Katastrophe unter massiven Schlafstörungen leide, obwohl sie nicht mit ihm zusammenwohnten. Am Ende nahm W. seinen Antrag auf Beiordnung zurück, aus Sicht der Staatsanwaltschaft ein versuchter Betrug in Tateinheit mit Anstiftung zur Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung.
Beihilfe zum versuchten Betrug und zur Urkundenfälschung soll W. zudem geleistet haben, indem er einem anderen Anwalt eine – echte – Geschädigte der Loveparade-Katastrophe zuschob: Eine auf W. ausgestellte Vollmacht der Frau übertrug er auf den Kölner Strafverteidiger Mustafa Kaplan, der sich dann für sie bestellte. Laut Anklageschrift soll die Frau davon nichts gewusst haben.
Sowohl W. als auch Kaplan haben in den Vernehmungen hingegen angegeben, sie sei informiert und einverstanden gewesen. Gegen Kaplan hat die StA gesondert ermittelt und dabei auch seine Kanzleiräume durchsucht, in der kommenden Woche wird er als Zeuge im Verfahren gegen Ralph W. aussagen. Unklar blieb am Freitag, ob das Strafverfahren gegen den Kölner Strafverteidiger selbst noch läuft. Kaplan ist mit dem NSU-Prozess als Nebenklagevertreter bekannt geworden. Aktuell verteidigt er den Rechtsextremen Stephan E., der am Mittwoch gestand, den tödlichen Schuss auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke abgegeben zu haben.
Original-Vollmacht und Unterschriften nicht auffindbar
Vor dem LG Aachen soll es an den kommenden Verhandlungstagen zunächst um den Komplex rund um das Loveparade-Verfahren gehen. Die Vorsitzende Theiner warf am Freitag recht pragmatisch schon im Vorfeld diverse Fragen auf mit der Bitte um Klärung an die Beteiligten. Die Fragen zu diesem im Vergleich winzigen Teilkomplex des NSU-Verfahrens und im Umfeld des Loveparade-Prozesses vermitteln eine Ahnung davon, wie komplex Ermittlungen in den beiden historischen Großverfahren waren - und sind.
So hat offenbar bislang noch niemand die Vollmacht im Original gesehen, mit der Ralph W. von der angeblichen Meral Keskin beauftragt wurde. Der 9. Großen Strafkammer liegen nur Unterlagen aus den ursprünglichen Ermittlungen nach dem Anschlag in der Keupstraße vor. Die Akten zum Verfahren gegen Beate Zschäpe, also dem sog. NSU-Prozess vor dem OLG München, liegen derzeit wegen deren Revision beim Bundesgerichtshof. OStA Witte erklärte, er habe die Unterlagen einsehen können, aber auch dort gebe es die Vollmacht nicht. Auf eine Anfrage beim OLG München habe er bisher noch keine Antwort erhalten.
Ähnlich scheint es mit der Unterschrift von Atila Ö. auszusehen, der möglicherweise Dokumente für die angebliche Meral Keskin unterzeichnet hat. Die Kammer jedenfalls habe diese noch nicht im Original in der Akte, teilte Theiner mit. OStA Witte zeigte sich "optimistisch", dass es noch eine Originalunterschrift aus jüngerer Zeit von Atila Ö. beim Bundesamt für Justiz geben könnte, das für die Anträge auf Zahlungen aus dem Opferfonds zuständig war. Nötig wird das auch, weil die zentrale Figur dieses Verfahrens im September 2017 verstorben ist.
Zentrale Zeugin nicht mehr in Deutschland?
Eine andere zentrale Zeugin ist wohl zumindest aktuell erst einmal nicht greifbar. Die Ladung an die Mutter von Atila Ö., Sennur Ö., sei zurückgekommen, teilte Richterin Theimer mit. Sennur Ö., die wie ihr Sohn beim Keupstraßenanschlag verletzt wurde und ebenfalls als Nebenklägerin im NSU-Prozess auftrat, und Ralph W. haben sich damals getroffen, nach seinen Angaben wurde sie ihm aber als seine Mandantin Meral Keskin vorgestellt. Sie könnte also womöglich Auskunft darüber geben, ob Ralph W. kollusiv mit Atila Ö. handelte oder selbst von diesem über die Existenz von Meral Keskin getäuscht wurde.
Richterin Theimer hielt es für möglich, dass die türkischstämmige Frau, die offenbar kaum der deutschen Sprache mächtig ist, möglicherweise nach dem Tod ihres Sohnes in die Türkei zurückgekehrt sein könnte. Nun soll die Polizei nach ihr suchen.
Unbekannt ist derzeit auch noch, in welcher Höhe Ralph W. zwischenzeitlich Rückzahlungen auf die erhaltenen 211.000 Euro erhalten hat. Das OLG München hat seine Bestellung zum Nebenklagevertreter nachträglich aufgehoben und ihn verpflichtet, das Geld zurückzuzahlen, seine Rechtsmittel gegen die Beschlüsse blieben erfolglos. Lange zahlte er nichts, laut der Vorsitzenden Theimer hat es mittlerweile aber wohl Rückzahlungen gegeben, siesprach von einer Summe von 1.500 Euro. Der aktuelle Stand sei das aber nicht, neue Informationen dazu werde sie einholen, wenn der Prozess sich dem Ende zuneige.
Ob es in Duisburg ein Ermittlungsverfahren gegen den Geschädigten des Loveparade-Unglücks gibt oder gab, der sich mit erfundenen Folgeschäden mit Hilfe von Ralph W. bereichern wollte, konnte OStA Witte bisher ebenso wenig klären wie die Frage, ob – vermutlich in Köln - noch gegen den Verteidiger Mustafa Kaplan ermittelt wird.
Das LG Aachen hat für das Verfahren gegen W. zunächst elf Verhandlungstage anberaumt, an den kommenden beiden soll es um die beiden Tatkomplexe im Umfeld des Loveparade-Prozesses gehen. Am kommenden Mittwoch soll Rechtsanwalt Mustafa Kaplan aussagen, der in Begleitung eines Zeugenbeistands erscheinen wird.
Prozessauftakt gegen Anwalt wegen Betrugs im NSU-Prozess: . In: Legal Tribune Online, 07.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42443 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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