Auf Lesbos droht eine Corona-Katastrophe. Zehntausende Geflüchtete sitzen in überfüllten Lagern fest. EU und Bund hatten zugesagt, Kinder zu evakuieren. Noch ist nichts passiert. Woran liegt das und könnte ein Bundesland den Alleingang wagen?
Eigentlich war es schon Anfang März beschlossene Sache. Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD erklärte sich bereit, bis zu 1500 Kinder aufzunehmen, die derzeit in überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln festsitzen. Das Lager Moria ist für 3.000 Menschen geplant, mittlerweile leben dort 20.000 Menschen. Die Hygienebedingungen werden von NGOs als katastrophal beschrieben, tausende Menschen teilen sich einen Wasserhahn, Seife fehlt. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen sieht durch die Corona-Pandemie eine tödliche Gefahr auf die Menschen dort zukommen. Das Virus könnte sich ungebremst verbreiten.
Union und SPD hatten erklärt, es handele sich um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind. Doch trotz des Beschlusses der Großen Koalition ist nichts passiert. Keines der Kinder wurde bislang nach Deutschland gebracht. Dabei haben einzelne Bundesländer und Kommunen bereits ausdrücklich erklärt, dass sie zur Aufnahme bereit sind.
Berliner Justizsenator: Geduld eher eine Frage von Stunden
Zuletzt hat der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) angekündigt, die Geduld mit dem BMI sei für ihn "eher eine Frage von Stunden als von Tagen". Ansonsten sei Berlin bereit, zusammen mit zivilgesellschaftlichen Partnern selbst dafür zu sorgen, dass Menschen von Lesbos ausgeflogen werden. Mittlerweile ist auch wieder eine Woche vergangen.
Im Berliner Senat habe man einen neuen Vorstoß verabredet, um minderjährige Geflüchtete von Lesbos aufzunehmen, hieß es am Dienstag aus der Senatsverwaltung für Justiz. Der Senat wird sich dazu nun mit dem BMI auseinandersetzen.
Auch andere Länder, wie Niedersachsen und Thüringen bekunden ihre Bereitschaft unbegleitete minderjährige Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen. "Angesichts der nach wie vor bestehenden humanitären Notsituation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln sowie den drohenden gesundheitlichen Gefahren durch die sich rasch ausbreitende Corona-Pandemie, halte ich ein schnelles Handeln für unerlässlich", sagte Thüringens Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, Dirk Adams (Grüne) zu LTO. "Die Landesregierung hat bereits im Herbst gegenüber dem Bund mitgeteilt, dass Thüringen zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit ist." Die Länder Niedersachsen, Berlin und Thüringen hatten sich damals mit einem Schreiben ans BMI für eine Aufnahme eingesetzt.
Rechtsgutachten sehen Spielraum für Alleingang der Länder
Ein Alleingang einzelner Bundesländer scheint aber wenig wahrscheinlich. Und zwar organisatorisch und juristisch. Zwar erlaubt § 23 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) der Landesregierung, im humanitären Ausnahmefall Ausländern einen Aufenthaltstitel zu gewähren. Und zwar unabhängig von deren Flüchtlingsstatus. Auf diesem Weg wurden seit 2015 syrische Flüchtlinge aufgenommen und Baden-Württemberg hat auch verfolgte Jesiden aus dem Nordirak gerettet.
Nach dieser Norm können die Länder also in Notsituationen eigenständig Menschen Aufenthalt in Deutschland verschaffen. Allerdings bedarf es dazu des "Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern", um die "Bundeseinheitlichkeit" sicherzustellen. Was das genau bedeutet und ob der Bund unter Umständen sogar verpflichtet sein könnte, dieses Einvernehmen zu erteilen, ist umstritten.
Ein 30-seitiges Gutachten, angefertigt von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs, kommt zu dem Ergebnis, dass der § 23 AufenthG den Ländern einen ganz erheblichen eigenen Spielraum bei ihren Aufnahmeentscheidungen einräumt. Und sein Einvernehmen verweigern könne das BMI nur in engen Ausnahmefällen. Denn, so das Gutachten, wenn jede Länderinitiative doch wieder nur vom Segen es BMI abhängt, dann hätte der Gesetzgeber sich die die Ausnahmeregelung des § 23 AufenthG gleich sparen können. Die Regelung solle vielmehr sicherstellen, dass sich einzelne Länder mit ihrer Praxis nicht zu weit von den Entscheidungen der anderen Bundesländer entfernen. Dem BMI werde also eher eine Koordinationsrolle eingeräumt. Das Gutachten hat der Europaabgeordnete der Grünen Erik Marquardt in Auftrag gegeben. Ganz ähnlich sieht die Rechtslage auch ein weiteres Rechtsgutachten im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
BMI teilt Rechtsauffassung nicht
In einem Schreiben des BMI von Anfang April an die Länder zu dem Marquardt-Gutachten heißt es, dass man die rechtliche Bewertung des Gutachtens nicht teile. Für eine Aufnahme durch die Länder stelle § 23 AufenthG "weder rechtlich noch nach der Staatspraxis des Bundes wie auch der Länder eine geeignete Rechtsgrundlage dar."
Normalerweise wird das von § 23 AufenthG geforderte "Einvernehmen" über die Innenministerkonferenz hergestellt, dort sprechen sich Landesinnenminister und das BMI ab. Dass der Bund sich die Federführung aus der Hand nehmen lassen will, scheint kaum vorstellbar.
In eine andere Richtung lenkten am Montag rund 50 Abgeordnete der Union die Aufmerksamkeit. Sie appellierten mit einem Brief an die EU-Kommission, die Kinder möglichst bald nach Europa zu holen. Eine BMI-Sprecherin sagte der Nachrichtenagentur AFP, die Bundesregierung stehe in intensivem Austausch mit den europäischen Partnern, um zeitnahe Übernahmen von den griechischen Inseln zu gewährleisten. "Details zur operativen Umsetzung der Aufnahme werden in Abhängigkeit von den Absprachen auf europäischer Ebene gegenwärtig geprüft."
Was von der europäischen "Koalition der Willigen" noch übrig ist
Anfang März hatten ursprünglich acht EU-Staaten darunter Irland, Portugal, Bulgarien und Litauen die Aufnahme von Kindern zugesagt. Von dieser "Koalition der Willigen" ist offenbar nicht mehr viel übrig. Offenbar sogar nur noch Luxemburg. Der Kleinststaat kündigte am Montag an, ein Dutzend Kinder aufnehmen zu wollen. Und forderte andere EU-Staaten, explizit auch Deutschland, auf, Verantwortung zu übernehmen. Der Außenminister Luxemburg, Jean Asselborn sagt dem ARD-Hauptstadtstudio: "Ich hoffe, dass Deutschland nicht auf Frankreich wartet und Frankreich nicht auf Deutschland wartet und in der Zwischenzeit geschieht nichts." Diese Situation macht es der Bundesregierung offenbar nicht einfacher, die sich eigentlich eine europäische Lösung vorgestellt hatte – und keinen deutschen Alleingang.
Der EU-Abgeordnete der Grünen Erik Marquardt, der sich derzeit auf Lesbos befindet, spricht gegenüber LTO von einem "Asylmikado". "Wer sich zuerst bewegt, verliert", so Marquardt. Er hält das gesamte Vorhaben für ein "Symbol-Projekt", aber keine Problemlösung. "Wenn wir 900 unbegleitete Minderjährige aus dem Lager Moria auf Lesbos aufnehmen, dann ist das noch kein Grund zum Jubel. Denn 18.000 Menschen werden der Katastrophe überlassen, als müssten wir sie jetzt opfern", so Marquardt.
Ob EU-Kommission, Bund oder Länder: Die entscheidende Frage wird jetzt sein, ob sie schnell genug handeln. Oder ob ihnen der SARS-CoV-2-Virus zuvorkommt.
Evakuierung von Flüchtlingen nach Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 07.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41247 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag