Wie am Dienstag bekannt wurde, soll der Hauptverdächtige im Fall Lübcke, Stephan E., sein Geständnis widerrufen haben. Warum man so etwas macht und was das prozessual bedeutet, erläutern Björn Gercke und Kerstin Stirner.
Die Meldung vom Dienstag machte schnell die Runde: Medienberichten zufolge hat Stephan E., der wegen des Verdachts des Mordes an dem CDU-Politiker Walter Lübcke festgenommen worden ist, sein Geständnis widerrufen, das er zuvor umfassend und sehr detailliert abgelegt haben soll. Das Geständnis soll von den Ermittlern als Ansatz für Folgeermittlungen genutzt worden sein, sodass weitere Personen, die an der Tötung Lübckes in Zusammenhang mit der Beschaffung der Tatwaffe beteiligt gewesen sein sollen, Presseberichten zufolge festgenommen wurden.
Die Umstände des am am Dienstag offenbar erfolgten Widerrufs sind derzeit noch unbekannt. In Anbetracht eines Verteidigerwechsels des E. liegen allerdings strategische Gründe für den Widerruf nahe.
Ein Geständnis wirkt sich auf die Strafzumessung aus
Das Geständnis des Beschuldigten gehört nach den Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO) formal betrachtet nicht zu den sogenannten Strengbeweismitteln, wird in der strafprozessualen Praxis aber gleichwohl als solches behandelt. Ein Geständnis sollte daher ebenso wie ein späterer Widerruf gut durchdacht sein. Gibt der Beschuldigte nämlich im Ermittlungsverfahren ein Geständnis ab, wiederholt er dieses im Regelfall auch in der Hauptverhandlung. Das Geständnis kann in diesem Fall als Einlassung des Angeklagten bei der Urteilsfindung verwertet werden. Der damit einhergehende Vorteil für den Angeklagten ist die Berücksichtigung des Geständnisses im Rahmen der Strafzumessung.
Zwar gibt es in Deutschland dazu keine festen Regeln, es entspricht aber gängiger Praxis der Gerichte, einem glaubhaften Geständnis erheblich mildernde Bedeutung beizumessen. Beim Vorwurf des Mordes kann ein Geständnis aufgrund der angedrohten absoluten lebenslänglichen Freiheitsstrafe zwar im Rahmen der Strafzumessung keine direkte Berücksichtigung finden; faktisch hat dies aber auch bei einer Verurteilung wegen Mordes – insbesondere mit Blick auf die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und die damit einhergehende Frage einer vorzeitigen Haftentlassung – eine nicht unerhebliche Bedeutung.
Gerichte müssen ein Geständnis immer prüfen
Doch selbst ein Geständnis kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) die Pflicht zur freien Überzeugungsbildung des Tatgerichts nicht außer Kraft setzen. Vielmehr ist das Gericht auch bei Abgabe eines Geständnisses verpflichtet, dieses im Rahmen der Beweisaufnahme einer sorgfältigen Überprüfung dahingehend zu unterziehen, ob es in sich stimmig und insbesondere mit Blick auf die sonstigen Beweisergebnisse glaubhaft ist.
Der Umfang der gerichtlichen Überprüfungspflicht hängt vom Inhalt des Geständnisses und den Umständen seiner Abgabe ab. Umso detaillierter und in sich schlüssiger das abgegebene Geständnis ist, desto geringer sind in der Regel die Anforderungen an die Überprüfungspflicht. Ein Urteil, das diese Pflicht aber in Gänze außer Acht lässt und stattdessen ausschließlich auf das Geständnis des Angeklagten abstellt, ist anfechtbar.
Bedeutung kommt diesen Anforderungen aber nicht nur im Rahmen der Hauptverhandlung zu, sondern bereits im Ermittlungsverfahren. Denn dort entscheidet die Staatsanwaltschaft letztlich aufgrund einer Prognose über das Ergebnis der Hauptverhandlung, ob sie Anklage erhebt oder das Verfahren einstellt.
Widerruf des Geständnisses macht dieses nicht unvergessen
Der Beschuldigte hat jederzeit die Möglichkeit, ein einmal abgegebenes Geständnis zu widerrufen. Nicht selten liegt der Grund für einen solchen Widerruf in einem Strategiewechsel – regelmäßig in Verbindung mit einem personellen Wechsel in der Verteidigung – begründet, etwa weil der neue Anwalt sich von einem Widerruf ein besseres Ergebnis verspricht.
Entgegen der landläufigen Annahme führt ein Widerruf aber nicht dazu, dass sich der Inhalt des abgegebenen Geständnisses prozessual "in Luft auflöst" und der Angeklagte in einer etwaigen Hauptverhandlung freigesprochen werden muss, wenn ausreichende Beweise sonst fehlen. Ganz im Gegenteil: In der Praxis kommt es trotz eines Widerrufs häufig zu einer Verurteilung des ursprünglich geständigen Angeklagten. Der Grund liegt darin, dass sowohl das Geständnis als auch der spätere Widerruf jedenfalls mittelbar weiterhin Eingang in die Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung finden können. Dies ist auf verschiedenen Wegen möglich:
Sofern das Geständnis vor einem Richter abgelegt wurde, besteht erstens die Möglichkeit, das Protokoll zu verlesen beziehungsweise eine Bild-Ton-Aufzeichnung von der Vernehmung vorzuführen. Nicht zulässig ist eine Verlesung oder Vorführung einer solchen Aufzeichnung zum Zweck der Beweisaufnahme über ihren Inhalt aber dann, wenn das Geständnis lediglich vor einem Ermittlungsbeamten der Polizei oder einem Staatsanwalt abgelegt wurde. Die StPO verbietet in diesem Fall eine Protokollverlesung.
Unabhängig von der Zulässigkeit der Verlesung eines richterlichen Vernehmungsprotokolls besteht aber zweitens die Möglichkeit, den Ermittlungsbeamten, der die Beschuldigtenvernehmung geführt hat, als "Zeugen vom Hörensagen" zum Inhalt des abgegebenen Geständnisses zu vernehmen. Gleiches gilt auch für sonstige Personen, denen gegenüber sich der Beschuldigte offenbart hat, zum Beispiel seine Mitinsassen in der Justizvollzugsanstalt. An die Würdigung einer solche Aussage sind aufgrund des eingeschränkten Beweiswerts aber strenge Anforderungen geknüpft, da das Tatgericht die Glaubwürdigkeit der unmittelbaren Beweisperson und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage nicht unmittelbar prüfen kann. Auf die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen kann eine tatrichterliche Feststellung daher nur dann gestützt werden, wenn es weitere Gesichtspunkte gibt, die diese bestätigen.
Gerichte dürfen auch den Widerruf bewerten
Auch das ursprünglich abgegebene Geständnis kann somit ungeachtet eines späteren Widerrufs mittelbar Grundlage tatrichterlicher Feststellungen sein. Gleiches gilt für dessen Widerruf, der als Aussage des Beschuldigten gleichermaßen Eingang in die Hauptverhandlung finden kann. Auch insoweit gilt allerdings, dass das Tatgericht den Widerruf entsprechend den Grundsätzen der freien richterlichen Beweiswürdigung auf die gleiche Weise zu würdigen hat wie das zuvor abgegebene Geständnis. Nach der vom BGH bereits seit den 1950er Jahren vertretenen Auffassung ist das Tatgericht somit nicht gehindert, ein früheres Geständnis des Angeklagten, das dieser inzwischen widerrufen hat, für glaubhaft zu erachten.
Es ist aber in jedem Fall verpflichtet, sorgfältig zu prüfen, wie valide ein späterer Widerruf des Geständnisses ist. Zu berücksichtigen hat es dabei etwa sowohl den Detailreichtum beider Aussagen – insbesondere auch im Verhältnis zueinander – als auch die vom Beschuldigten geäußerten Gründe für den Widerruf. So dürfte etwa ein Geständnis, das die zur Last gelegte Tat besonders detailliert beschreibt und insbesondere Täterwissen offenbart oder sogar zum Auffinden weiterer Beweismittel führt, das Tatgericht oftmals eher überzeugen als ein knapper, unbegründeter "Formalwiderruf". Dies ist aber letztlich eine vom Tatgericht anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu entscheidende Frage.
Unabhängig von der Frage der richterlichen Würdigung des Beweiswertes von Geständnis und Widerruf kann ein einmal abgegebenes Geständnis trotz eines späteren Widerrufs zudem als Ansatz für weitere Ermittlungen verwendet werden. Auf der Grundlage des Geständnisses können daher nicht nur weitere Ermittlungsergebnisse gegen den Beschuldigten selbst, sondern auch gegen andere Personen erzielt werden, die möglicherweise an der Tat beteiligt waren. Das Geständnis kann dann auch auf diese Weise mittelbar in die Urteilsfindung einfließen, obwohl es widerrufen wurde.
Widerruf des Geständnisses nur in absoluten Ausnahmefällen sinnvoll
Angesichts dessen ist der Widerruf eines Geständnisses daher nur in absoluten Ausnahmefällen sinnvoll. Ein Geständnis abzulegen ist ein großer Schritt, der vom Verteidiger aufgrund der damit verbundenen Folgen gut durchdacht sein sollte. Ist das Geständnis einmal abgegeben, kann es zwar jederzeit formal widerrufen werden - faktisch ist dies in den weit überwiegenden Fällen aber mit negativen Konsequenzen verbunden.
Nicht nur geht damit der mit einem Geständnis verbundene Vorteil im Rahmen der Strafzumessung, sondern letztlich auch die Glaubwürdigkeit des Angeklagten verloren, sodass auch weiterhin ein erhebliches Verurteilungsrisiko besteht. Wird ein Geständnis widerrufen, kann das für den Angeklagten im worst case daher bedeuten, dass er sich zum einen um einen erheblichen Strafmilderungsgrund bringt und zum anderen gerade aufgrund des formal widerrufenen, aber im Rahmen der freien Beweiswürdigung im Ergebnis mittelbar verwertbaren Geständnisses verurteilt wird.
Ein Geständniswiderruf ist daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen – etwa bei Abgabe eines Geständnisses durch einen unverteidigten Beschuldigten – sinnvoll und auch dies nur dann, wenn der Widerruf mit einer umfassenden und glaubhaften Erklärung dazu verbunden wird, warum das Geständnis falsch war.
Die Autoren Prof. Dr. Björn Gercke und Dr. Kerstin Stirner sind Rechtsanwälte und Partner der auf das Wirtschafts-, Steuer- und Medizinstrafrecht spezialisierten Kanzlei Gercke | Wollschläger in Köln.
Geständniswiderruf im Fall Lübcke: . In: Legal Tribune Online, 03.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36267 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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