Ist eine Straßenblockade eine geschützte Versammlung? Wie kann sie aufgelöst werden? Sind schmerzhafte Polizeigriffe rechtmäßig? In Teil III des Prüfungsspezials gibt Prof. Dr. Michael Fehling Antworten zum öffentlichen Recht.
Die Klimaproteste der "Letzten Generation" führen nicht nur zur Belastung von Verkehrsteilnehmern, Fluggästen und Konzertfreunden, sondern auch von Jurastudenten und Examenskandidaten. Insbesondere in mündlichen Prüfungen sind die Aktionen der "Letzte Generation" ein beliebtes Thema.
Nachdem wir uns in Teil 1 mit den zivilrechtlichen Fragestellungen beschäftigt und sodann in Teil 2 die strafrechtliche Seite beleuchtet haben, widmet sich Prof. Dr. Michael Fehling für LTO zu guter Letzt der öffentlich-rechtlichen Betrachtung der Klimaproteste.
Versammlungsbegriff
Beim Versammlungsbegriff ist im Schrifttum umstritten, ob die – mindestens zwei – Teilnehmenden der Zusammenkunft einen gemeinsamen Meinungsbildungszweck (in Abgrenzung zu etwa bloßen Vergnügungszwecken) verfolgen müssen und ob diese Meinungsbildung öffentliche (in Abgrenzung zu privaten) Angelegenheiten betreffen muss.
Bei Straßenblockaden zwecks Klimaprotesten liegt selbst beim engsten, von der Rechtsprechung favorisierten Versammlungsbegriff – der eine gemeinsame Stellungnahme zu oder Erörterung von öffentlichen Angelegenheiten voraussetzt – eine Versammlung vor. Die Aktivisten wollen mit der Straßenblockade gerade das politische Bewusstsein für die drohende Klimakatastrophe wecken und protestieren gegen eine zu langsame und ineffektive Klimaschutzpolitik. Dies bringen sie auch nach außen klar zum Ausdruck.
Straßenblockade als Ausdrucksmittel?
Mit welchen Mitteln die Teilnehmenden ihre Meinung ausdrücken und öffentliche Aufmerksamkeit suchen, ist dabei gleichgültig. Sie sind nicht auf "klassische" Demonstrations- und sprachliche Ausdrucksformen (Plakate, Sprechchöre, Reden, etc.) beschränkt, sondern können dies auch mittels einer Straßenblockade tun. Denn die Versammlungsfreiheit schützt grundsätzlich auch die freie Wahl von Zeit, Ort, Ablauf und Gestaltung der Versammlung.
Friedlichkeit?
Allerdings muss die Versammlung "friedlich" sein, damit der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eröffnet ist. Unfriedlichkeit kann nicht schon bei einer Verletzung von Strafgesetzen angenommen werden. Denn andernfalls würde der Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG in wesentlichen Teilen zu einer immanenten Schutzbereichsbegrenzung gemäß Art. 8 Abs. Abs.1 GG mutieren.
Vielmehr ist eine Versammlung erst unfriedlich, wenn sie – in Parallele zu §§ 5 Nr. 3, 13 Abs. 1 Nr. 2 Versammlungsgesetz (VersG) – einen gewalttätigen und aufrührerischen Verlauf nimmt. Gewalttätigkeit in diesem Sinne darf wiederum nicht mit "Gewalt" i.S.v. § 240 Strafgesetzbuch (StGB) verwechselt werden, sondern setzt eine aggressive körperliche Einwirkung von einiger Erheblichkeit voraus.
Die bloße Zwangswirkung, dass Autofahrer nicht weiterfahren können, reicht dafür – unabhängig von der umstrittenen Strafbarkeit nach § 240 StGB – nicht aus. Ein Ankleben auf der Straße erschwert das Aufheben der Blockade, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich um rein passiven Widerstand und damit nicht um eine zur Unfriedlichkeit führende Gewalttätigkeit handelt (ebenso für eine Sitzblockade mit Anketten schon BVerfG Beschl v. 24.10.2001, E 104, 92, [105 f.] – Wackersdorf).
Ergebnis
Somit handelt es sich bei den Straßenblockaden der Klimaaktivisten um eine vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG erfasste Versammlung. Etwaige Verstöße gegen (Straf-)Gesetze können im Rahmen des Gesetzesvorbehalts (Art. 8 Abs. 2 GG i.V.m. § 15 Abs. 2 VersG bzw. den entsprechenden Vorschriften zum Verbot/ zur Auflösung von Versammlungen nach den Landesversammlungsgesetzen, etwa § 13 VersG NRW) die Auflösung der Versammlung rechtfertigen und dann den Grundrechtsschutz erlöschen lassen. Sie ändern jedoch nichts daran, dass der Schutzbereich zunächst eröffnet ist.
Eine Spontanversammlung liegt nur vor, wenn sie sich aus aktuellem Anlass augenblicklich oder jedenfalls so "spontan" gebildet hat, dass eine vorherige Anmeldung zeitlich nicht mehr möglich oder zumutbar ist. Die Anmeldepflicht des § 14 VersG (bzw. der landesrechtlichen Vorschriften) als Grundrechtsschranke (Art. 8 Abs. 2 GG) wird insoweit im Lichte des Grundrechts eingeschränkt (grundlegend BVerfG Beschl. v. 14.5.1985, E 69, 315 [350 f.], – Brokdorf).
Straßenblockaden durch Klimaaktivisten reagieren dagegen typischerweise nicht spontan auf einen aktuellen Anlass, sondern mit geplanten Aktionen auf das Strukturproblem eines unzureichenden Klimaschutzes. Das Bestreben, ein Unterbinden der Blockade durch die Polizei im Vorfeld zu verhindern oder die polizeiliche Auflösung der Blockade zu verzögern, rechtfertigt keinen Verzicht auf die Anmeldepflicht. Versammlungsteilnehmer haben ein Recht darauf, ihr Anliegen möglichst effektiv in zeitlicher Nähe zu einem auslösenden (politischen) Ereignis artikulieren zu können. Sie können jedoch nicht beanspruchen, von polizeilichen Maßnahmen verschont zu bleiben, die die Versammlungsfreiheit rechtmäßig einschränken.
Demnach handelt es sich bei den typischen "Klimakleber"-Blockadeaktionen nicht um eine Spontanversammlung. Anderes würde nur gelten, wenn eine solche Aktion unmittelbar auf eine klimaschutzrelevante politische Entscheidung oder einen vergleichbaren Anlass reagiert.
Die Folgen: Liegt keine Spontanversammlung vor, wäre die Blockadeaktion eigentlich vorab als Versammlung anzumelden (§ 14 VersG). Dabei müsste auch der Veranstaltungsort angegeben werden. Das wird aber kaum geschehen, weil dadurch aus Sicht der Aktivisten der Zweck vereitelt würde: Die Polizei würde die Blockade untersagen (§ 15 Abs. 1 VersG) und vor Ort verhindern. Bei rechtswidrigem und schuldhaftem Unterlassen der Anmeldung begeht der Veranstalter der Versammlung nach § 26 Nr. 2 VersG sogar eine Straftat.
Solange eine Versammlung nicht durch Auflösung (§ 15 Abs. 3 VersG oder Landesrecht) beendet worden ist, genießt sie den Schutz der Versammlungsfreiheit. Gegen eine grundrechtlich geschützte Versammlung kann schon wegen des Zitiergebots (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) nur aufgrund der Eingriffsermächtigungen des Versammlungsgesetzes als besonderem und damit auch speziellerem Ordnungsrecht vorgegangen werden, weil nur dieses die Versammlungsfreiheit als eingeschränkt zitiert (§ 20 VersG oder Landesrecht).
Platzverweis und Räumung sind dagegen Maßnahmen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts, das die Versammlungsfreiheit nicht einzuschränken in der Lage ist (sogenannte Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts).
Daher ist zwingend folgende Reihenfolge einzuhalten:
1. Auflösung
Verstößt die Straßenblockade gegen Rechtsvorschriften (zumindest der Straßenverkehrsordnung [StVO], gegebenenfalls auch gegen Strafvorschriften) und damit gegen die öffentliche Sicherheit, so kann (Ermessen!) sie nach § 13 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG (bzw. Landesgesetz) aufgelöst werden.
Damit haben sich alle Teilnehmenden sofort zu entfernen. Dies normiert § 13 Abs. 2 VersG, der für Versammlungen unter freiem Himmel analog anwendbar ist. Mit der Auflösung endet der Schutz der Versammlungsfreiheit und die Sperrwirkung des VersG.
Allein der Verstoß gegen die Anmeldepflicht rechtfertigt für sich genommen noch keine Auflösung der Versammlung. Der Verstoß senkt aber bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Eingriffsschwelle sowohl für die im Ermessen stehende Auflösung aus anderen Gründen als auch für Folgemaßnahmen.
2. Platzverweis
Entfernen sich die Blockierer nicht freiwillig, so verstoßen sie auch deshalb gegen die öffentliche Sicherheit. Ihre gesetzliche Verpflichtung, den Ort zu verlassen, kann (erneut Ermessen, aber hier regelmäßig Ermessensreduzierung auf Null) mittels Platzverweises (als Standardmaßname im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, zum Beispiel § 12a Hamburgisches Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung [HmbSOG], § 34 Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen [PolG NRW]) durchgesetzt werden.
3. Wegtragen als "unmittelbarer Zwang"
Der Platzverweis wiederum stellt einen vollstreckungsfähigen Grundverwaltungsakt (typischerweise in Form einer Allgemeinverfügung, § 35 S. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz des jeweiligen Bundeslandes [LVwVfG]) dar.
Als unaufschiebbare Anordnung eines Polizeivollzugsbeamten ist der Platzverweis nach dem jeweiligen Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz (zum Beispiel § 3 Abs. 3 Nr. 3 HmbVwVG, § 55 Abs. 1 VwVG NRW) sofort vollziehbar und ein Widerspruch entfaltet nach § 80 Abs. 2 Nr. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) keine aufschiebende Wirkung. Kommen die Blockierer dem Platzverweis nicht nach, kann sich die Polizei zur Räumung nach vorheriger Androhung (je nach Land zum Beispiel § 22 HmbSOG, § 61 PolG NRW) des Zwangsmittels "unmittelbarer Zwang" (zum Beispiel §§ 11 Abs. 1 Nr. 3, 15 Abs. 1 HmbVwVG i.V.m. § 17 HmbSOG, §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1, 58 ff. PolG NRW) in der Form einfacher körperlicher Gewalt (zum Beispiel § 18 HmbSOG, § 58 Abs. 1 PolG NRW) bedienen und die Blockierer, wenn festgeklebt, von der Straße lösen und wegtragen.
Wie allgemein gilt auch bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs schon verfassungsrechtlich (Art. 2 Abs. 2 GG) das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Dies ist in den Vollstreckungsgesetzen der Länder (beispielsweise für die Auswahl und Anwendung der Zwangsmittel allgemein: § 12 Abs. 1 HmbVwVG, § 58 VwVG NRW) und in den Polizeigesetzen in unterschiedlich weitem Umfang sogar ausdrücklich normiert (zum Beispiel § 4 HmbSOG, § 2 PolG NRW) und teilweise konkretisiert.
Die Zufügung von Schmerzen ist demnach nur in dem Maße erlaubt, wie es erforderlich ist, um einen etwaigen Widerstand zu überwinden (Gebot des mildest möglichen Mittels, Übermaßverbot). Dieser Grundsatz gilt selbst wenn die Vollstreckung durch Anwendung schmerzhafter Polizeigriffe einfacher und schneller möglich wäre, andere Mittel also nicht gleichermaßen geeignet wären. Das auf diese Weise effektivere, aber schmerzhaftere Vorgehen ist im engeren Sinne unverhältnismäßig (unangemessen), wenn die verursachten Schmerzen außer Verhältnis zur dadurch vereinfachten und beschleunigten Vollstreckung stehen.
Solange die Aktivisten keinen Widerstand leisten, kann eine einfache Sitzblockade durch bloßes und im Grundsatz schmerzfreies Wegtragen beseitigt werden. Ein schmerzhaftes Packen und Schleifen wäre nicht erforderlich oder, wenn andernfalls mehr Vollzugsbeamte benötigt werden, zumindest unangemessen. Schmerzhafte Griffe sind nur in dem Maße zulässig, wie beim Wegtragen körperlicher Widerstand der Blockierer zu überwinden ist. Haben sich die Aktivisten an der Straße festgeklebt, müssen sie zunächst von der Straße losgelöst werden. Dabei lassen sich möglicherweise im Einzelfall Schmerzen nicht vollständig vermeiden.
Eine deutlich schmerzhaftere Methode der Loslösung darf aber nicht allein deshalb angewandt werden, weil damit die Blockade wenige Minuten schneller aufgehoben werden könnte. Besteht der Unterschied jedoch in einem deutlich längeren Zeitraum, gewinnen in der Verhältnismäßigkeitsabwägung die Interessen der blockierten Autofahrer an Bedeutung und können je nach den Umständen des Einzelfalls schmerzhaftere Methoden – nicht aber größere Verletzungen – rechtfertigen.
Bei der Beurteilung steht den Beamten ein gewisser Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, der jedoch angesichts des erheblichen Grundrechtseingriffs nicht allzu groß ist. Unter keinen Umständen ist die Zufügung von Schmerzen bei einer Räumung mit dem (Neben-)Ziel zulässig, ein Exempel zu statuieren und so von weiteren Aktionen dieser Art abzuschrecken. Denn dabei handelt es sich bei der Verwaltungsvollstreckung, die allein der Durchsetzung der jeweiligen im Grundverwaltungsakt statuierten Rechtspflicht dienen darf, um sachfremde und damit ermessensmissbräuchliche (§ 40 LVwVfG, § 114 VwGO) Motive.
Die haftungsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen der Amtshaftung ergeben sich aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG.
Amtspflicht
Die Vollzugsbeamten handeln als "Beamte" im statusrechtlichen Sinne öffentlich-rechtlich "in Ausübung" eines ihnen "anvertrauten öffentlichen [Polizei-]Amtes". Sie trifft dabei im Verhältnis zu ihrem Dienstherrn – auf diese verwaltungsinterne Perspektive kommt es bei § 839 BGB an – die Amtspflicht, im Außenverhältnis zu den Bürgern und damit auch den blockierenden Klimaaktivisten rechtmäßig zu handeln.
Diese Pflicht besteht nicht nur im öffentlichen Interesse an der Rechtmäßigkeit der Verwaltung, sondern gerade auch zum Schutz und im Interesse der konkret von den polizeilichen Maßnahmen betroffenen Klimaaktivisten. Somit handelt es sich um eine "einem Dritten gegenüber obliegende" Amtspflicht.
Verschulden
Schwierigkeiten kann im Einzelfall die Feststellung eines "vorsätzlich[en] oder fahrlässig[en]" Verhaltens (§ 276 BGB) auf Seiten der Polizei bereiten, wobei Fahrlässigkeit wahrscheinlicher ist. Soweit die einzelnen Vollzugsbeamten nur die Anordnungen des Einsatzleiters befolgen, ist dieser verantwortlich. Auf die konkret gegenüber den Protestierenden handelnden Beamten ist abzustellen, soweit die Einsatzbefehle den einzelnen Vollzugsbeamten (Konkretisierungs-)Spielräume belassen oder sich einzelne Beamte über die Anordnungen hinwegsetzen. Der Sorgfältigkeitsstandard bemisst sich nach den objektiven Anforderungen an einen pflichtgetreuen Durchschnitts(vollzugs)beamten. Auf die individuellen Fähigkeiten des konkret Handelnden kommt es nicht an. Zu den geforderten Fähigkeiten gehören nicht zuletzt Besonnenheit und Übersicht auch in unübersichtlichen Situationen, so dass Wut über tatsächliche oder vermeintliche "Provokationen" oder gar schon über die vermeintliche "Dreistigkeit" der Protestform den Fahrlässigkeitsvorwurf bei übermäßiger Gewaltanwendung nicht entkräften kann.
Schaden?
Der Schaden (§§ 249 ff. BGB) kann in ärztlichen Behandlungskosten bestehen und gegebenenfalls auch ein Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) umfassen. Dafür muss die Schädigung bzw. die Zufügung von Schmerzen allerdings eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten.
Haftende Körperschaft
Durch Art. 34 Satz 1 GG wird die Haftung von einzelnen schuldhaft handelnden Beamten auf die Körperschaft übergeleitet, welche den Einsatz verantwortet und den Vollzugsbeamten die entsprechende Aufgabe übertragen hat (Anvertrauenstheorie; dazu grundlegend BGH, Urt. v. 12.02.1970, Az. III ZR 231/68). Das entsprechende Bundesland haftet demnach auch dann, wenn im Wege der Amtshilfe Beamte aus einem anderen Bundesland die rechtswidrige Amtshandlung begangen haben.
Ergebnis
Steht die Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes fest (zum Beispiel wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung), so dürften die Voraussetzungen der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) regelmäßig gegeben sein. Die praktischen Probleme liegen hier wohl eher auf der Beweisebene.
Der Präventivgewahrsam dient in der hier relevanten Variante der Verhinderung von näher definiertem polizeiwidrigem Verhalten und von unmittelbar bevorstehenden Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten., In Bayern kommt als Zweck darüber hinaus allgemeiner auch die Verhinderung von Gefahren für näher definierte (mehr oder minder bedeutende) Rechtsgüter in Betracht. Als polizeirechtliche Standardmaßnahme ist der Präventivgewahrsam abzugrenzen zum einen von der Zwangshaft als Vollstreckungsmittel für eine Grundverfügung und zum anderen von der Strafhaft.
Die Tatbestandsvoraussetzungen sind in den einzelnen landesrechtlichen Regelungen unterschiedlich weit gefasst. Typischerweise ist der Präventivgewahrsam auf die Abwehr von unmittelbar bevorstehenden Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung (beispielsweise § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW, § 17 Abs. 1 Nr. 2 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei BayPAG) oder einer unmittelbar bevorstehenden erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 Polizeigesetz Baden-Württemberg [PolG BW]) gerichtet. Noch weiter geht die unter Verhältnismäßigkeitsaspekten höchst problematische Regelung in Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG, wonach ein Präventivgewahrsam schon zur Abwehr einer einfachen, nicht notwendig unmittelbar bevorstehenden Gefahr für ein näher definiertes bedeutendes Rechtsgut zulässig sein soll.
Aus Verhältnismäßigkeitsgründen sind schon die Tatbestandsvoraussetzungen (zur Haftdauer unten) äußerst restriktiv auszulegen.Dies fordern sowohl Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG als auch Art. 5 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
Schutzgut
Beim Schutzgut kann die mit einer Straßenblockade begangene Ordnungswidrigkeit richtigerweise nicht pauschal als hinreichend erheblich eingestuft werden, um einen Präventivgewahrsam zu rechtfertigen. Denn die Auto-Fortbewegungsfreiheit besitzt für sich genommen keinen allzu hohen Rang, wenn im Notfall eine Rettungsgasse geöffnet wird. Bei besonders langer Dauer einer solchen Blockade mag dies allerdings ausnahmsweise anders zu beurteilen sein. Ist dies – wie typischerweise – nicht der Fall, so kommt es darauf an, ob eine Nötigung (§ 240 StGB) als Straftat und erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten ist. Die dafür erforderliche Verwerflichkeit darf im Lichte des Art. 8 GG nicht pauschal und vorschnell bejaht werden. § 17 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG würde nur dann zusätzliche Möglichkeiten für einen Präventivgewahrsam eröffnen, wenn die dort genannte "Freiheit" auch die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer einschließt. Doch setzt diese Einordnung erneut zumindest eine strafbare Nötigung voraus (offen gelassen von Poscher/Werner, Verfassungsblog v. 24.11.2022).
Gefahr
Bei den Anforderungen an die Gefahr wird es meist am Erfordernis einer unmittelbar bevorstehenden Begehung der – eventuellen – Nötigung fehlen. Dass weitere Blockaden dieser Art für einen ungewissen Zeitpunkt, damit möglicherweise Tage und Wochen später, angekündigt werden, genügt nicht. Es müssten zumindest hinreichende Anhaltspunkte für eine strafbare Blockadeaktion am gleichen oder folgenden Tag vorliegen (so auch Poscher/Werner, Verfassungsblog v. 24.11.2022). Zweifel selbst bei einem zeitlichen Abstand von mehreren Stunden bei VG Gelsenkirchen, Urt. v. 10.08.2022, Az. 17 K 4838/20). Diese Anforderungen an die zeitliche Nähe fehlen bei § 17 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG, so dass nach der allgemeinen Gefahrendefinition ein Schadenseintritt in absehbarer Zukunft genügt. Damit kommt es für diese Norm entscheidend auf die schon zuvor aufgeworfene Frage an, ob die Straßenblockade in ihrer zu erwartenden Form als Straftat gegen die "Freiheit" einzustufen ist. Allerdings haben sich auch die bayerische Polizei und Justiz jedenfalls in einem publik gewordenen Fall anscheinend gerade nicht auf § 17 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG, sondern auf die dortige Nr. 2 mit den schärferen Anforderungen an die zeitliche Nähe gestützt.
Ermessen
Zu guter Letzt muss bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden, dass die Freiheitsentziehung nur ultima ratio sein darf. Vorrangig sind insbesondere Meldeauflagen und ähnliche Maßnahmen (VG Gelsenkirchen, Urt. v. 10.08.2022, Az. 17 K 4838/20). Selbst wenn die Tatbestandsvoraussetzungen ausnahmsweise vorliegen sollten, dürfte Präventivhaft somit allenfalls bei "Wiederholungstätern" in Betracht kommen. Zudem muss sie zeitlich eng begrenzt werden Eine sich über Wochen erstreckende Freiheitsentziehung ist gerade im Lichte der strengen EGMR-Rechtsprechung (EGMR, Urt. v. 22.10.2018, Az. 35553/12 u. a.), ungeachtet der teilweise anderen Praxis (vor allem in Bayern) von vornherein unverhältnismäßig. Dies umso mehr, als die Präventivhaft nur auf die Verhinderung konkreter, in einer bestimmten kurzen Zeitspanne bevorstehender Straftaten ausgerichtet ist. Man muss sogar die Eignung einer Präventivhaft bezweifeln, wenn Klimaaktivisten glaubwürdig deutlich machen, dass sie trotz zwischenzeitlicher Präventivhaft an dieser Aktionsform für einen unbestimmten Zeitraum festhalten, und deshalb die im Raum stehenden Taten nicht durch Zeitablauf abgewendet werden (so AG München, Beschl. v. 07.12.2022, Az. ERXXXI XIV 1281/22 L [PAG]).
Zusammenfassend dürften schon die Tatbestandsvoraussetzungen eines Präventivgewahrsams nur in Ausnahmefällen vorliegen, erst recht bestehen erhebliche Verhältnismäßigkeitsbedenken. Dieses Instrument birgt ein erhebliches Missbrauchsrisiko. Wenn es –von der Verhinderung konkret bevorstehender strafbarer Aktionen losgelöst – zur möglichst generellen Verhinderung bestimmter Protestformen eingesetzt wird, mutiert es zu einem allgemeinen Abschreckungsmittel.
Ermächtigungsgrundlage für Beobachtung
Die Voraussetzungen einer Beobachtung von einzelnen Klimaaktivisten oder von Personenzusammenschlüssen wie der "Letzten Generation" durch den Verfassungsschutz sind in den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder normiert. Von den Aufgaben des Verfassungsschutzes kommt hier allenfalls § 3 Abs. 1 Nr. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) in Betracht. Die Betreffenden müssen sich aktiv, aber nicht notwendig kämpferisch (siehe BVerfG, Urt. v. 26.04.2022, Az. 1 BvR 1619/17 - Bayerisches Verfassungsschutzgesetz) gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Verfassungsorganen zum Ziel haben. Dies kann bei der Begehung von Straftaten zu politischen Zwecken der Fall sein, ist es aber nicht automatisch.
Zweifel sind hier schon deshalb angebracht, weil die Klimaaktivisten mit ihren Blockadeaktionen ja gerade die Beachtung der Verfassung in Gestalt der Klimaschutzanforderungen, wie sie sich nach dem Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus Art. 20a GG i.V.m. mit dem Bundes-Klimaschutzgesetz und dem Pariser Klimaschutzübereinkommen ergeben, anstreben. Der Rechtsbruch dient somit nicht der Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung, sondern deren Effektivierung.
Verfassungsfeindlich?
Eine verfassungsfeindliche Stoßrichtung ließe sich allenfalls formal damit begründen, dass es in einer freiheitlichen Demokratie nicht hingenommen werden kann, wenn politische Ziele außerhalb des politisch-demokratischen Prozesses mittels Rechtsbruchs verfolgt werden, um so Druck auf die Regierenden (Verfassungsorgane) auszuüben. Allerdings wollen die Klimaaktivisten hier den politischen Prozess nicht umgehen, sondern gleichsam aufrütteln. Ihre Blockaden sollen nicht die Regierung zu dem erwünschten Verhalten zwingen – was auch gänzlich unrealistisch wäre –, sondern als eine Art Fanal das Bewusstsein der Regierenden wie der Bevölkerung für die Dringlichkeit des Klimaschutzes schärfen in der Hoffnung, dass die Bürger wiederum politisch eine engagiertere Klimapolitik durchsetzen.
Die eingesetzten Mittel stehen in einer langen Tradition des zivilen Ungehorsams, der bewusst Gesetze bricht, aber auf Gewalttätigkeiten konsequent verzichtet. Die Rechtsordnung wird nicht aktiv bekämpft – eventuelle Bestrafungen werden bewusst hingenommen –, sondern es soll deren Unvollkommenheit aufgezeigt und damit das Bewusstsein für Reformnotwendigkeiten geschärft werden.
Eine Beobachtung der Aktivisten der "Letzten Generation" durch den Verfassungsschutz lässt sich somit – zumindest derzeit – gesetzlich nicht rechtfertigen. Sie gehört schon von vornherein nicht zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes.
Prof. Dr. Michael Fehling ist Inhaber des Lehrstuhl für öffentliches Recht mit Rechtsvergleichung an der Bucerius Law School, Hamburg
LTO-Examensspezial zu den Klimaprotesten Teil III: . In: Legal Tribune Online, 02.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51120 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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