Eine Institution, drei Orte – das Europäische Parlament hat nicht nur einen Sitz in Straßburg, sondern zusätzlich die Arbeitsorte Brüssel und Luxemburg. Für die EU-Parlamentarier bedeutet das: pendeln, jeden Monat aufs Neue. Dem wollen sie mit einem neuen Antrag ein Ende setzen, und verweisen unter anderem auf Kosten im dreistelligen Millionenbereich und tausende Tonnen an CO2-Emissionen pro Jahr.
Zwölf Mal im Jahr sollen sie für ihre Plenartagungen 435 Kilometer von Brüssel nach Straßburg reisen. Dagegen regte sich bei den Europaparlamentariern schon in den 50ern Protest, den die Mitgliedstaaten allerdings seitdem stets geflissentlich ignorieren.
Es ist ein bisschen wie der ewige Streit zwischen Berlin und Bonn. Wer kriegt wie viel von welchem Ministerium? Kritiker verweisen darauf, dass die ewige Pendelei die Arbeit der Referate ungemein behindert und dem Steuerzahler unsinnige Kosten aufbürdet. Befürworter sorgen sich dagegen um die wirtschaftliche Entwicklung von Bonn, sollten noch mehr Ministerialbeamte wegziehen.
Die EU-Abgeordneten fachen die Diskussion um ihren Standtort nun erneut an. Sie wollen endlich, genauso wie Rat und Kommission, dauerhaft in Brüssel bleiben dürfen und nicht mehr alle paar Wochen in die elsässische Provinz abgeschoben werden.
Parlament verweist auf Selbstorganisationsrecht
Deshalb debattierten sie am Dienstag über einen Bericht, der vorschlägt, dem Europäischen Parlament das Recht zu geben, selbst darüber zu entscheiden, wo und wann es tagt. Aktuell bestimmen dies gemäß Art. 341 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Mitgliedstaaten, wobei eine Änderung nur einstimmig möglich ist. Dazu wird es aber nicht ohne weiteres kommen, da Frankreich den Standort Straßburg nicht freiwillig opfern wird.
Die Parlamentarier verweisen nun auf allerhand Zahlen: geschätzte Mehrkosten zwischen 156 und 204 Millionen Euro, was etwa zehn Prozent des Jahresbudgets ausmache, sowie 11.000 bis 19.000 Tonnen CO2-Emissionen jährlich, die das Hin-und-Her zwischen den Standorten verursachen soll.
In rechtlicher Hinsicht erinnern die Abgeordneten an ihr Selbstorganisationsrecht. Dass die Mitgliedstaaten über den Sitz des Parlaments entscheiden würden, stehe im Widerspruch zur allgemeinen Logik der europäischen Verträge, da dies mittlerweile die einzig verbliebene Regelung sei, die die Autonomie und innere Arbeitsweise des Parlaments einschränke.
Mitgliedstaaten unbeeindruckt
Seit der Gründung der Institution 1952 hat sich tatsächlich einiges geändert. Damals hieß das Parlament noch nicht Parlament, sondern Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Deren Vertreter wurden nicht von den Unionsbürgern gewählt, sondern von den Mitgliedstaaten entsandt. Sie waren auch nur 78 an der Zahl, mittlerweile sind es beinahe zehnmal so viele. Beim Verfassen von Gesetzen durften sie zu Beginn überhaupt nicht mitspielen; nun ist das Parlament gemeinsam mit dem Ministerrat der Gesetzgeber der EU.
Dieser Zugewinn an Bedeutung ging aber nicht mit einer höheren Autonomie bei der Wahl des Arbeitsortes einher. Im Gegenteil haben die Mitgliedstaaten in Protokoll Nr. 6 zum Lissabon-Vertrag trotz aller Kritik erneut festgelegt: "Das Europäische Parlament hat seinen Sitz in Straßburg" und Arbeitsorte in Brüssel sowie Luxemburg. In Straßburg finden die zwölf monatlichen Plenartagungen einschließlich der Haushaltstagung statt, alle weiteren Plenarsitzungen sowie die der Ausschüsse werden in Brüssel abgehalten. In Luxemburg ist die Parlamentsverwaltung angesiedelt.
Das ist das Ergebnis eines mühsamen Kompromisses zwischen den Mitgliedstaaten, von denen jeder darauf erpicht ist, sich das Prestige und die wirtschaftlichen Vorteile zu sichern, die eine europäische Institution für die Region mit sich bringt. Die Parlamentarier sehen sich dagegen nicht länger in der Lage, ohne ein voll entwickeltes Selbstorganisationsrecht ihre Aufgaben zu erfüllen und den Erwartungen ihrer Wähler gerecht zu werden.
2/2: Europarechtler: "Ein geschickter Schachzug"
Der Juraprofessor Martin Nettesheim hält die Position des Parlaments für außergewöhnlich gut vorbereitet. "Die Abgeordneten führen sehr präzise und umfassend eine Reihe von Argumenten auf."
Für rechtlich zwingend hält er es allerdings nicht, dass das Parlament über seinen Sitz selbst bestimmen können muss. Ein Blick in andere Verfassungen parlamentarischer Demokratien zeige, dass es meist anders laufe. Auch der Bundestag entscheidet nicht autonom über seinen Sitz. Die Frage ist gesetzlich im Berlin/Bonn-Gesetz geregelt.
Es gebe jedoch eine politische Verpflichtung, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu schützen, so der Tübinger Europarechtler. "Letztlich sind sich alle einig, dass die Aufteilung auf Brüssel und Straßburg suboptimal ist."
Der Vorstoß der Parlamentarier sei außerdem ein geschickter Schachzug, um die Diskussion am Laufen zu halten. Die Finanzkrise und die Europa-Diskussion in Großbritannien würden sicherlich dazu führen, dass nach den Europawahlen in der zweiten Jahreshälfte 2014 die konstitutionelle Debatte in der EU weitergeführt werde. In diesem Zusammenhang könne auch die Frage nach dem Sitz des Parlaments neu angegangen werden.
Parlament wollte Frankreich schon einmal austricksen
Zuletzt haben die Parlamentarier 2011 aufbegehrt, indem sie einfach den Sitzungskalender für die Jahre 2012 und 2013 änderten. Eine der beiden viertägigen Plenarsitzungswochen im Oktober strichen die Abgeordneten schlicht, und teilten die verbliebene Sitzungswoche in zwei auf. Schon diesen Trick machte Frankreich aber nicht mit und beschwerte sich beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), der dem Land Recht gab und das Parlament in seine Schranken verwies.
Die Richter nutzten die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass selbst dann, wenn die Pluralität der Arbeitsorte tatsächlich Nachteile und Kosten verursachen sollte, es allein Sache der Mitgliedstaaten sei, dies zu ändern. Die interne Organisationsgewalt des Parlaments sei im Übrigen nicht dadurch beeinträchtigt, dass die Mitgliedstaaten über den Sitz der Institution entscheiden würden (Urt. v. 13.12.1012, Az. C-237/11).
Auch in Zukunft werden die Richter den Abgeordneten nicht weiterhelfen können. Formal ist der Antrag der Parlamentarier lediglich ein Vorschlag an die Mitgliedstaaten, die Verträge zu ändern. Das Parlament kann solche Vertragsänderungen lediglich anstoßen, Art. 48 Abs. 2 S. 1 Vertrag über die Europäische Union. "Sollten die Mitgliedstaaten auch den aktuellen Vorstoß des Parlaments nicht aufgreifen, können die Abgeordneten wenig tun. Der EuGH wäre für eine Klage schon nicht zuständig, da er über die Gültigkeit der Verträge nicht zu entscheiden hat", erklärt Nettesheim.
Sitzfragen immer ein Gesamtpaket
Die Abgeordneten betonen übrigens, dass sie mit ihrem Antrag ausdrücklich keine Empfehlung aussprechen, wo das Parlament künftig seinen Sitz haben soll. Das klingt ein bisschen so, als ob alles möglich wäre: Paris, Rom, Warschau und ganz vielleicht auch irgendwie Brüssel.
Tatsächlich liest man aber an vielen Stellen immer wieder Brüssel aus dem Bericht heraus. "Aus Gründen der Effizienz, auf die die Parlamentarier verweisen, würde ja auch nur dieser Standort Sinn ergeben“, findet Nettesheim.
So leicht werden sich die Franzosen also wohl nicht austricksen lassen. "Sitzfragen waren in der EU immer Teil eines Gesamtpakets. Dass die EZB ihren Sitz in Frankfurt hat, hängt auch damit zusammen, dass Deutschland keine Ansprüche gestellt hat, was den Sitz des Parlaments betrifft", sagt Nettesheim. Auf jeden Fall werde man Frankreich eine Kompensation anbieten und zum Ausgleich ein anderes Gremium oder eine EU-Behörde in Straßburg ansiedeln müssen, etwa den Ausschuss der Regionen oder den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.
Claudia Kornmeier, Sitz des EU-Parlaments: Brüssel, Brüssel, Brüssel . In: Legal Tribune Online, 20.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10104/ (abgerufen am: 04.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag