In Ungarn finden fast alle Asylverfahren in haftähnlichen Transitzonen an der Grenze statt. An diesem Montag prüft der EuGH, ob das mit EU-Recht vereinbar ist. Christian Rath gibt einen Aus- und Überblick.
An diesem Montag wird die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ab 15 Uhr über einen zentralen Bestandteil des ungarischen Asylsystems verhandeln, die beiden Transitzonen in Röszke und Tompa und ihre rechtlichen Grundlagen. Die EU-Kommission sieht EU-Recht verletzt und hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn angestrengt (Az.: C-808/18).
Wer in Ungarn illegal ins Land kommt und Asyl beantragen will, muss dies in einer der Transitzonen an der Grenze nach Serbien tun. Allerdings ist der Zugang zu diesen Zonen begrenzt. Nach Darstellung der ungarischen Organisation Hungarian Helsinki Committee (HCC) wird pro Tag nur eine Person neu aufgenommen. Der Antragssteller muss dann während des gesamten Verfahrens (und im Falle einer Ablehnung auch danach) in der haftähnlichen Einrichtung bleiben. Der Weg zurück nach Serbien ist allerdings immer möglich.
Die EU-Kommission moniert vor allem drei Punkte:
- Wegen des beschränkten Zugangs zu den Transitzonen und der langen Wartezeit sei kein effizienter Zugang zum Asylverfahren gewährleistet.
- Die systematische Internierung von Flüchtlingen verstoße gegen die EU-Aufnahme-Richtlinie. Auch werde die Internierung in der Transitzone nicht, wie in der EU-Asyl-Verfahrensrichtlinie vorgesehen, nach spätestens vier Wochen beendet.
- Viele illegal eingereiste Ausländer könnten nicht einmal Asyl beantragen, weil sie ohne Beachtung der EU Verfahrensvorschriften nach Serbien "zurückbegleitet" werden.
Wie beim EuGH üblich, wird es nicht sofort zum Urteil kommen. Vielmehr wird erst in einigen Wochen einer der Generalanwälte seine gutachten-artigen Schlussanträge vorstellen und der EuGH wird erst weitere Wochen später seine Entscheidung verkünden.
Pro Asyl: "Enorme Bedeutung" des Verfahrens für EU-Asylrecht
Pro Asyl misst dem Verfahren "enorme" Bedeutung zu, die weit über Ungarn hinausreiche. Schließlich werde auf EU-Ebene derzeit über ein neues EU-Asylsystem diskutiert, bei dem ebenfalls die Asylprüfungen möglichst in Transitzonen an den EU-Außengrenzen stattfinden sollen. Auch hier könne es zu Masseninhaftierungen kommen.
Möglicherweise wird der EuGH die ungarische Rechtslage und Praxis aber nur an den bestehenden EU-Asyl-Richtlinien messen und nicht an übergeordnetem EU-Primärrecht und an Völkerrecht. Ein EuGH-Urteil hätte dann wenig Prägewirkung für das kommende EU-Asylrecht.
EGMR zuvor: Transitzonen keine Freiheitsentziehung
Mit den ungarischen Transitzonen hatte sich bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beschäftigt. Dort ging es um die Frage, ob die Transitzonen eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellen. Die Große Kammer des EGMR (Urt. v. 21.11.2019, Beschw.-Nr.: 47287/15) hatte dies überraschend verneint.
Die Antragsteller seien freiwillig in die Transitzonen gegangen und hätten sie auch (Richtung Serbien) wieder verlassen können. Dort habe ihnen keine Gefahr für Leib und Leben gedroht, so die Straßburger Richter. Die Sorge um eine Kettenabschiebung nach Griechenland genüge nicht, um den Aufenthalt in der Transitzone als Freiheitsentziehung einzustufen.
Inzwischen hat das HCC jedoch darauf hingewiesen, dass der EGMR bisher nur die inzwischen überholte Rechtslage von 2015 prüfte. Seit 2017 gälten jedoch verschärfte Regeln. So sei die ursprüngliche zeitliche Befristung von 28 Tagen weggefallen. In der Transitzone werde auch nicht mehr nur über die Zulässigkeit des Asylantrags entschieden, sondern das gesamte Asylverfahren abgewickelt. HHC ist sicher: bei einer neuen Prüfung würde der EGMR das ungarische System der Transitzonen beanstanden.
Der EuGH in Luxemburg ist aber ohnehin nicht an die Entscheidung des EGMR in Straßburg gebunden, weil er mit den EU-Asyl-Richtlinien einen anderen Maßstab hat.
Streit um die Verteilung von Flüchtlingen
Der EuGH beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit Ungarns Asylpolitik. Bisher ging es allerdings vor allem um die Verteilung von Flüchtlingen. Als im Jahr 2015 die Zahl der ankommenden Migranten in die Höhe schnellte und sich die Staaten an der südlichen EU-Außengrenze - Italien und Griechenland - überfordert zeigten, beschloss der EU-Ministerrat einen Umverteilungsmechanismus. Bis zu 160.000 Flüchtlinge mit Bleibeperspektive sollten auf andere Länder umverteilt werden, davon 1.294 nach Ungarn. Gegen die Umverteilung klagten Ungarn und die Slowakei. Doch der EuGH (Urt. v. 06.09.2017, Az.: C-643/15 u.a.) konnte keinen Verstoß gegen EU-Recht erkennen.
Ungarn, Polen und Tschechien lenkten aber weiterhin nicht ein und nahmen kaum umverteilte Flüchtlinge auf. Die EU-Kommission eröffnete deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die drei Staaten (Az.: C-718/17 u.a.). Diese hatten sich vor allem auf Sicherheitsbedenken gestützt, was Generalanwältin Eleanor Sharpston (Schlussantr. V. 31.10.2019) aber nicht gelten ließ. Die EU-Staaten könnten zwar aus Sicherheitsgründen die Aufnahme einzelner Flüchtlinge verweigern, so Sharpston. Generell seien sie jedoch zur Aufnahme der umverteilten Flüchtlinge verpflichtet, hierfür spreche auch der "Grundsatz der Solidarität". Der EuGH wird sein Urteil in dieser Sache am 2. April 2020 verkünden.
Streit um sichere Transitstaaten
Ein neuer Streitpunkt zwischen EU und Ungarn hat sich durch die Verschärfung des ungarischen Asylrechts 2018 ergeben, die sogenannten "Stop Soros"-Gesetze. Seitdem gelten in Ungarn Asylanträge stets als unzulässig, wenn der Antragsteller zwischen Herkunftsland und Ungarn mindestens einen sicheren Transitstaat passierte.
Auf ein Vorabentscheidungs-Ersuchen eines ungarischen Gerichts hat im Dezember 2019 Generalanwalt Michal Bobek hierzu Stellung genommen (Schlussantr. V. 08.12.2019, Az.: 564/18). Er sieht im Konzept der sicheren Transitstaaten einen Verstoß gegen die EU-Asyl-Verfahrensrichtlinie. Zwar seien laut Art. 33 der Richtlinie auch Anträge unzulässig, wenn der Flüchtling bereits durch einen "sicheren Drittstaat" gereist war. Allerdings sind die rechtlichen Anforderungen an einen "sicheren Drittstaat" höher, weshalb Ungarn ja auch eine neue Kategorie mit reduzierten Standards erfand.
Inzwischen hat die EU-Kommission auch in dieser Sache ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, das im November 2019 beim EuGH einging (Az. C-821/19). Hinzu kommen zwei weitere Vorabentscheidungsersuchen von ungarischen Gerichten, in denen es u.a. ebenfalls um das Konzept der sicheren Transitstaaten ging (Az. C-924/19 u.a.).
Alles in allem sieht es also nicht so aus, als ob die rechtliche Kontrolle durch die EU-Institutionen mäßigend auf Ungarns Asylpolitik wirke.
EuGH verhandelt über ungarisches Asylrecht: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40199 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag