Niederlage für Deutschland im Streit um russisches Gas: Die Energiesolidarität sei ein rechtlicher Begriff, so der EuGH. Das Urteil hat grundlegende Bedeutung für die unionsrechtliche Energiepolitik, meint Friedrich von Burchard.
Gegenstand des Streits sind russische Erdgaslieferungen über die Pipeline Nordstream 1. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit dem am 15. Juli 2021 veröffentlichten Urteil das Rechtsmittel der Bundesrepublik Deutschland gegen einen Beschluss des Gerichts der Europäischen Union (EuG) zurückgewiesen (Az. C-848/19 P). Konkret geht es um die Frage, in welchem Umfang ein marktbeherrschendes Unternehmen wie Gazprom die von der Regulierung ausgenommene Opal-Pipeline nutzen darf.
Die Opal-Pipeline transportiert das über die Nordstream 1 angelandete russische Erdgas von Lubmin durch Brandenburg und Sachsen bis zur deutsch-tschechischen Grenze, wo ein Anschluss an das tschechische Leitungsnetz besteht.
2009 beschloss die Bundesnetzagentur (BNetzA), Opal für die Dauer von 22 Jahren von den Vorschriften über den Netzzugang Dritter und der Entgeltregulierung gemäß der Erdgas-Binnenmarktrichtlinie (2003/55/EG v. 26.06.2003) freizustellen. Die Europäische Kommission stellte die Freistellung unter anderem unter die Bedingung, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen wie Gazprom nicht mehr als 50 Prozent der grenzüberschreitenden Transportkapazitäten der Opal buchen dürfe.
Gazprom konnte faktisch gesamte Transportkapazität der Opal nutzen
Nachdem die BNetzA 2016 der Kommission mitgeteilt hatte, die Ausnahme abzuändern, beschloss die Kommission im selben Jahr eine Änderung der Freistellung, wodurch Gazprom faktisch die Nutzung der gesamten Transportkapazität der Opal ermöglicht wurde.
Gegen diese Entscheidung klagte Polen vor dem EuG. Wenn mehr Gas über die Nordstream-Pipeline nach Mitteleuropa komme, so die Begründung, könne die Lieferung von Gas über zwei konkurrierende Pipelines durch Osteuropa gedrosselt werden. Dies bedrohe die Versorgungssicherheit in Polen und widerspreche dem in der Europäischen Union (EU) geltenden Grundsatz der Solidarität im Energiesektor.
Das EuG erklärte 2019 den Beschluss der Kommission mit der Begründung für nichtig, er verstoße gegen den in Art. 194 des Vertrages über die Arbeitsweise der Union (AEUV) verankerten Grundsatz der Energiesolidarität (Rechtssache T-883/16). Die Kommission habe es versäumt, die Auswirkungen der Kapazitätsregelung für die Opal auf die polnische Versorgungssicherheit zu prüfen. Damit trat wieder die ursprüngliche Regelung mit einer Beschränkung auf 50 Prozent der Kapazität in Kraft.
Gegen das Urteil des EuG klagte Deutschland Ende des Jahres 2019 vor dem EuGH. Zur Begründung führte es an, bei der Energiesolidarität handele es sich lediglich um einen politischen Begriff. Die Energiesolidarität stelle kein rechtliches Kriterium dar, aus dem unmittelbar Rechte und Pflichten für die Mitgliedstaaten abgeleitet werden könnten. Hiergegen habe die Kommission mit ihrem Beschluss nicht verstoßen.
Grundsatz der Solidarität als Grundpfeiler des Unionsrechts
Der EuGH hat nun diese Auffassung und damit das Rechtsmittel Deutschlands zurückgewiesen.
Der EuGH führt zunächst aus, dass der in Art. 194 Abs. 1 AEUV geregelte Grundsatz der Solidarität einen Grundpfeiler des Unionsrechts darstelle. Er liege den Zielen der Energiepolitik der Union zugrunde und erzeuge deshalb verbindliche Rechtswirkungen. Deshalb seien alle Handlungen der Organe der Union im Bereich der Energiepolitik an diesem Grundsatz zu messen. Dies gelte auch, wenn das einschlägige Sekundärrecht nicht ausdrücklich auf den Grundsatz der Solidarität Bezug nehme.
Auch dürfe der Grundsatz nicht nur in den in Art. 222 AEUV angeführten Krisensituationen angewendet werden. Er erstrecke sich vielmehr auf alle Maßnahmen der Energiepolitik der Union. Im konkreten Fall hätte die Anwendung des Grundsatzes dazu führen müssen, die energiepolitischen Interessen Polens zu berücksichtigen und Maßnahmen zu vermeiden, die die Versorgungssicherheit beeinträchtigen könnten.
Prägung der künftigen energiepolitischen Beziehungen der Union zu Drittstaaten
Die Entscheidung des EuGH kommt nicht überraschend, hatte doch Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen die gleiche Auffassung vertreten. Der EuGH hat damit klargestellt, dass die Energiesolidarität nicht lediglich ein politisches Statement und damit rechtlich unbeachtlich ist.
Sie ist vielmehr bei Auslegung und Anwendung des Unionsrechts unmittelbar zu berücksichtigen und dient auf diese Weise dazu, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen des Energiebinnenmarktes zu festigen und zu vertiefen.
Dem Urteil kommt damit gleichzeitig Außenwirkung zu, die künftige energiepolitische Beziehungen der Union zu Drittstaaten prägen wird. Die Kommission, die 2016 noch dem Ansinnen Deutschlands gefolgt war, wird den Grundsatz der Energiesolidarität künftig bei ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen.
Bedeutung für deutsche Positionierung zu russischen Erdgaslieferungen
Die Niederlage Deutschlands vor dem EuGH wird nicht ohne Wirkungen auf die deutsche Positionierung, insbesondere im Verhältnis zu russischen Erdgaslieferungen, bleiben. Der politische Streit über mögliche regulatorische Ausnahmen, insbesondere vom Netzzugang und der Entflechtung für Importleitungen aus Russland, ist so alt wie das Gesamtprojekt Nordstream. Das Projekt spaltete die EU und belastete die Beziehungen zu den USA. Hauptargument dagegen war und ist, dass das Projekt die energiepolitische Sicherheit der Union gefährde und zur Destabilisierung der Ukraine beitrage.
Deutschland hatte immer zu den Befürwortern von Nordstream gehört, was auch die Klage vor dem EuGH erklärt. Zumindest der außenpolitische Druck der USA hat jedoch stark nachgelassen, seit die USA keine neuen Nordstream 2-Sanktionen mehr planen.
Die Position Deutschlands in dieser Frage wurde auch im Rahmen der 2019 abgeschlossenen Überarbeitung der EU-Gas-Richtlinie deutlich. Hierbei ging es um die Ausweitung der Regulierungsvorschriften auf die Territorialgewässer der Mitgliedstaaten und dort verlaufende Gasleitungen aus Drittstaaten in die EU. Nachdem Deutschland dies lange komplett abgelehnt hatte, wurde schließlich ein Kompromiss gefunden, wonach der Mitgliedstaat über entsprechende Ausnahmeregelungen entscheidet, an dessen Küste sie anlanden. Die Kommission kann dies prüfen.
Auswirkungen auf Nordstream 1 und 2
Das EuGH-Urteil kann vor diesem Hintergrund durchaus Auswirkungen auf Nordstream haben. Die Beschränkung der Nutzung der Opal-Kapazitäten ist geeignet, die Wirtschaftlichkeit von Nordstream 1 zu beeinträchtigen.
Aber auch Auswirkungen auf Nordstream 2 sind nicht auszuschließen. So führt Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen aus, dass es für Gazprom schwieriger werden könne, "in den Genuss einer vorübergehenden Ausnahme von der Anwendung der Unionsbestimmungen [...] auf die Gasfernleitung Nord Stream 2 [...] zu kommen".
Unmittelbare Auswirkungen auf die Europäische Gas-Anbindungsleitung (Eugal) sind allerdings nicht zu sehen. Eugal verläuft weitgehend parallel zur Opal und soll das über Nordstream 2 angelandete Erdgas ebenfalls Richtung Tschechien transportieren. Im Gegensatz zu Opal ist die Eugal aber in das europäische Fernleitungsnetz integriert und ohne Ausnahmeregelung voll reguliert.
Dr. Friedrich von Burchard ist Rechtsanwalt und Partner bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Er berät insbesondere im Bereich des Energierechts, der Energieregulierung, des Rechts der Erneuerbaren Energien, zu Wasserstoff sowie zu Upstream Oil & Gas.
Streit um Erdgaspipeline Opal: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45497 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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