Das deutsche Mitbestimmungsgesetz verstößt nicht gegen das Unionsrecht. Nicht nur Unternehmen mit mitbestimmten Aufsichtsräten können aufatmen. Thomas Gennert erklärt die Hintergründe.
Das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) ist mit Unionsrecht vereinbar. Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nach einer Vorlagefrage des Kammergerichts (KG) Berlin entschieden (Urt. vom 18.07.2017, Az. C-566/15).
Die am Verfahren beteiligte Tui AG und eine Vielzahl deutscher Unternehmen mit mitbestimmten Aufsichtsräten können nun erleichtert sein, weil sie die Wahlen für ihre Aufsichtsgremien nicht EU-weit wiederholen müssen. Aber auch eine andere Gruppe von Unternehmen wird nun aufatmen.
Der disruptive Antragsteller
Die Vorlage an den EuGH resultiert aus einem sog. Statusverfahren, mit dem u.a. Aktionäre die ordnungsgemäße Zusammensetzung eines Aufsichtsrats gerichtlich überprüfen lassen können. Der Antragsteller, ein Jurist und Anteilseigner der Tui AG namens Konrad Erzberger, hatte bereits gegen andere Unternehmen (erfolglos) Statusverfahren eingeleitet.
Er begründete dies jeweils damit, dass die Regeln der deutschen Unternehmensmitbestimmung in Bezug auf das aktive und passive Wahlrecht der Arbeitnehmer für deren Vertreter in den mitbestimmten Aufsichtsräten nach herkömmlicher Lesart allein die Arbeitnehmer eines Unternehmens berücksichtigen, die im Inland beschäftigt sind. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und das Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV.
Die Motivation von Konrad Erzberger ist dabei unklar. Gemutmaßt und befürchtet wurde, er wolle die deutsche Unternehmensmitbestimmung vollständig kippen, aber auch, er wolle die Repräsentation der Arbeitnehmer in den mitbestimmten Aufsichtsräten ausweiten. Er selbst beschreibt sich als "disruptiven Investor" und als jemanden "der schon eher mal etwas wagt, schneller einen Schritt unternimmt als andere".
Im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer bleiben außen vor
Bei der Tui sind in Deutschland etwa 10.000, innerhalb der EU aber fast 40.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Der Antragsteller ist der Auffassung, das MitbestG verstoße gegen Unionsrecht, weil die im europäischen Ausland beschäftigten Arbeitnehmer des Tui-Konzerns aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Denn im Gegensatz zu in Deutschland lebenden Arbeitnehmern könnten sie weder die Arbeitnehmervertreter des Aufsichtsrats der Tui wählen, noch selbst in den Aufsichtsrat gewählt werden.
In erster Instanz entschied das LG Berlin (Urt. v. 1.06.2015, Az. 102 O 65/14, DB 2015 S. 1588), dass in Bezug auf die im Unionsausland Beschäftigten keine Diskriminierung vorliege, sondern lediglich eine "Reflexwirkung", welche aber unterhalb der Eingriffsschwelle für einen Unionsrechtsverstoß zurückbleibe.
2/3: Vorlagebeschluss des Kammergerichts
Das hiernach angerufene KG hat das Verfahren hingegen ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vorgelegt (Beschl. v. 16.10.2015), ob im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 45 AEUV mit dem Unionsrecht zu vereinbaren sei, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind.
Nach Auffassung des KG sei es durchaus vorstellbar, dass im Unionsausland beschäftige Arbeitnehmer aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert und in ihrer Freizügigkeit beschränkt werden. Hierfür wurde das Kammergericht in der Rechtsliteratur zum Teil heftig kritisiert.
Kein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit
Nachdem in einer schriftlichen Stellungnahme der Kommission noch Zweifel an der Vereinbarkeit der Regelungen zum Wahlrecht des MitbestG mit dem Unionsrecht erkennbar waren, relativierte sich diese Haltung im Nachgang zur mündlichen Verhandlung und den Schlussanträgen des Generalanwalts. Letztere gingen schließlich von einer Vereinbarkeit des MitbestG mit dem Unionsrecht aus.
Der EuGH folgt nun im Wesentlichen der Argumentation des Generalanwalts und unterscheidet hierbei zwei Konstellationen:
Für Arbeitnehmer der Tui, die bei einer Tochtergesellschaft mit Sitz im EU-Ausland beschäftigt sind, fehle es bereits an einem grenzüberschreitenden Sachverhalt. Einen solchen setze der speziellere und damit gegenüber dem Diskriminierungsverbot vorrangige Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV aber voraus. Bei der Situation dieser Arbeitnehmer handele es sich mithin um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt, der nicht am Unionsrecht zu messen sei.
Für Arbeitnehmer der Tui und ihrer Tochtergesellschaften im Inland, die sich dazu entschließen eine Stelle bei einer Gesellschaft im EU-Ausland anzutreten, sei zwar ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben. Dieser stelle allerdings keine Behinderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar.
Das Unionrecht könne einem Arbeitnehmer nicht garantieren, dass ein solcher Umzug in einen anderen Mitgliedstaat in sozialer Hinsicht "neutral" sei, weil die Mitgliedstaaten für verschiedene Bereiche unterschiedliche Regelungen vorsehen. Deutschland sei danach nicht daran gehindert, den Geltungsbereich des MitbestG im Hinblick auf das aktive und passive Wahlrecht auf Arbeitnehmer inländischer Betriebe zu beschränken.
3/3: Keine Neuwahlen erforderlich
Die Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen und die Begründung seiner Entscheidung nachvollziehbar. Warum sollen Arbeitnehmer von Gesellschaften im EU-Ausland in ihrer Freizügigkeit behindert werden, weil sie nicht von den Mitbestimmungsrechten eines anderen Mitgliedstaats erfasst werden? Auch die bei der Tui offenbar nicht existierende Variante von (EU-) ausländischen Betrieben inländischer Gesellschaften hat der EuGH in Bezug auf den Geltungsbereich des MitBestG folgerichtig für mit dem Unionsrecht vereinbar gehalten.
Aufatmen können nun alle deutschen Unternehmen mit mitbestimmten Aufsichtsräten und Arbeitnehmern im Unionsausland, weil ihnen eine zeitraubende und kostspielige EU-weite Neuwahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat erspart bleibt. Auch ein vom Oberlandesgericht (OLG) München (Beschl. v. 20.02.2017, Az. 31 Wx 321/15) mit parallel gelagertem Sachverhalt ausgesetztes Verfahren sollte damit nun entschieden sein.
Mitwählen vs. Mitzählen
Für eine andere Gruppe von deutschen Umnehmen dürfte die Entscheidung des EuGH mit noch größerer Spannung erwartet worden sein: Für alle Gesellschaften, die derzeit noch nicht der Unternehmensmitbestimmung - oder jedenfalls noch nicht der paritätischen - unterliegen, weil die jeweiligen Schwellenwerte der Arbeitnehmerzahlen in den maßgeblichen Gesetzen noch nicht erreicht wurden, stellt sich die Frage, ob Arbeitnehmer im EU-Ausland bei Ermittlung dieser Schwellen auch mitzuzählen sind. Wäre dies der Fall, könnte einer Vielzahl von deutschen Unternehmen erstmals die Etablierung mitbestimmter oder paritätisch mitbestimmter Aufsichtsräte drohen.
Die Frage des "Mitzählens" war jedoch nicht Gegenstand des Ausgangsverfahrens der Tui und für diese im Hinblick auf 10.000 im Inland beschäftigte Arbeitnehmer auch nicht brisant. Es war jedoch zu lesen, dass dieses Thema auch in der mündlichen Verhandlung beim EuGH diskutiert worden ist. In seiner heutigen Entscheidung hat er sich hierzu jedoch nicht geäußert.
Das OLG Frankfurt a.M. hat ein ebenfalls durch einen Aktionär eingeleitetes Statusverfahren gegen die Deutsche Börse AG zu genau dieser Frage mit der Begründung ausgesetzt, ein Verstoß gegen EU-Recht käme allenfalls dann in Betracht, wenn der EuGH im Tui-Verfahren der Auffassung sei, dass den Arbeitnehmern im EU-Ausland ein passives Wahlrecht nach dem MitbestG zustehe.
Ungeachtet der Frage, inwiefern diese beiden Umstände im Lichte des Unionsrechts überhaupt zusammenhängen, ist nun zu erwarten, dass das OLG Frankfurt a.M. den Beschluss der Vorinstanz aufhebt und feststellt, dass bei Anwendung des MitbestG auch bei der Berechnung der maßgeblichen Schwellenwerte allein auf im Inland beschäftigte Arbeitnehmer abzustellen ist.
Der Autor Dr. Thomas Gennert ist Fachanwalt für Arbeitsrecht im Düsseldorfer Büro von McDermott Will & Emery Rechtsanwälte und Steuerberater LLP und Mitglied der deutschen Praxisgruppe Arbeitsrecht.
Dr. Thomas Gennert, EuGH zu deutscher Mitbestimmung: Kein Verstoß gegen Unionsrecht . In: Legal Tribune Online, 18.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23489/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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