Ist ein Kind Unionsbürger, dürfen seine Eltern nicht aus dem Gebiet der EU abgeschoben werden, auch wenn ihnen kein eigenes Aufenthaltsrecht zusteht. Nun hatte der EuGH zu entscheiden, ob das auch gilt, wenn nur ein Elternteil betroffen ist.
Das Urteil des EuGH basiert auf einer Vorlage des niederländischen Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht für den Bereich der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes). Dieser ist mit mehreren Fällen befasst, in denen drittstaatsangehörige Mütter ein gemeinsames Kind mit einem Niederländer haben, wobei Mutter und Kind gemeinsam in den Niederlanden leben. Die Klägerin im nun entschiedenen Fall ist Venezolanerin; sie hatte 2009 ein Kind mit einem Niederländer gezeugt und kümmert sich seit der Trennung vom Vater 2011 allein um das Kind. Der Vater leistet weder zur Erziehung noch zum Unterhalt des Kindes einen Beitrag. Gleichwohl verweigerten die niederländischen Behörden der Mutter Sozialhilfe und Kindergeld, da sie als Drittstaatsangehörige keine Aufenthaltsberechtigung in den Niederlanden habe.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) musste nun vor allem prüfen, welche Bedeutung Art. 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in derartigen Fällen zukommt. Die Vorschrift enthält eine Reihe von Rechten, die Unionsbürgern zustehen – sie gilt somit nicht unmittelbar für die Mutter, sehr wohl aber für ihr Kind.
EuGH 2011: Keine Abschiebung, wenn beide Eltern Drittstaatsangehörige
Zum Katalog des Art. 20 AEUV gehört auch das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. a) AEUV), wenngleich dieses Recht unter dem Vorbehalt gewisser Grenzen und Bedingungen steht, vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 3 AEUV. Gleichwohl hat der EuGH bereits 2011 entschieden, dass die Unionsbürgerschaft gebiete, "dass ein Mitgliedstaat es Staatsangehörigen eines Drittlands, die Eltern eines Kindes sind, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats hat, gestattet, sich in diesem Staat aufzuhalten und dort zu arbeiten, denn eine Verweigerung dieses Rechts würde diesem Kind den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der mit dem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte vorenthalten" (Urt. v. 08.03.2011, Az. C-34/09).
Im damaligen Fall waren allerdings beide Eltern Drittstaatsangehörige. Hätte der EuGH ihnen kein Aufenthaltsrecht zugebilligt, hätte effektiv auch das Kind seinen Aufenthalt im Unionsgebiet beenden müssen. Das hätte man im aktuellen Verfahren anders sehen können, da mit dem niederländischen Vater ja zumindest ein Sorgeberechtigter bereitstand, der zweifelsfrei über ein eigenes Aufenthaltsrecht verfügte. Dieser Argumentation hat der EuGH sich in seiner heutigen Entscheidung indes nicht angeschlossen (Az. C-133/15). Vielmehr hat er seine bisherige Rechtsprechung weiterentwickelt und die Rechte der Mütter in erfreulicher Weise gestärkt.
Beweislasterleichterung für die Mütter
Er ist allerdings nicht so weit gegangen, ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörige Elternteile von Unionsbürgern zu postulieren. Vielmehr weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese Fälle zunächst an den Vorschriften über die Freizügigkeit (Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38) zu messen seien. Erst, wenn auf dieser Grundlage kein Aufenthaltsrecht festgestellt werden könne, fänden die Unionsbürgerrechte aus Art. 20 AEUV Anwendung. An dieser Stelle betont der EuGH erneut die Bedeutung des Kernbestands der Rechte des Unionsbürgerstatus. Der geschilderte Sachverhalt legt den Verdacht nahe, dass eine Aufenthaltsbeendigung der Mutter aus dem Unionsgebiet aller Voraussicht nach auch das Kind zur Ausreise zwingen würde. Denn theoretisch könnte sich zwar auch der Vater um das Kind kümmern, de facto besteht zu diesem aber seit Jahren keinerlei Kontakt.
Der EuGH hat den Fall zwar nicht abschließend entschieden, da dies Sache des vorlegenden Gerichts ist. Er stellt jedoch hohe Anforderungen an die Versagung des Aufenthaltsrechts der Mutter. Zwar ist auch er – ebenso wie die niederländischen Behörden – der Ansicht, dass die Mutter in der Beweislast dafür sei, dass die Versagung des Aufenthaltsrechts ihr gegenüber effektiv auf das Kind durchschlagen würde. Er betont aber zugleich auch, dass diese Beweislastregel "die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV" nicht beeinträchtigen dürfe. Die zuständigen Behörden haben demnach zu ermitteln, ob derjenige Elternteil, der Unionsbürger ist, hier also der Vater, auch wirklich in der Lage und bereit ist, die Sorge für das Kind allein wahrzunehmen.
Auch emotionale Bindung kann Aufenthaltsrecht begründen
Doch selbst wenn das der Fall sein sollte, so wäre es aus Sicht des Gerichts zwar als "ein Gesichtspunkt von Bedeutung", jedoch nicht allein ausreichend, um ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Mutter auszuschließen. Denn es könne ja trotzdem sein, dass ein so enges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mutter und Kind bestehe, dass das Kind effektiv gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn die Mutter ausgewiesen würde. Es seien daher sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, wie Alter, körperliche und emotionale Entwicklung und der Grad der affektiven Bindung des Kindes zu beiden Elternteilen. Insbesondere betont das Gericht auch die Bedeutung des Rechts auf Achtung des Familienlebens und des Kindeswohls.
Damit schließt sich der EuGH im Wesentlichen der Rechtsauffassung des Generalanwalts beim Maciej Szpunar aus dessen Schlussantrag vom 8. September 2016 an. Auch dieser hatte insbesondere die Bedeutung des Kindeswohls betont.
Sozialhilfe für Alleinerziehende kann nicht zu viel verlangt sein
Die Beschreibung des Sachverhalts in der Pressemitteilung des EuGH, vor allem aber die in dem Schlussantrag des Generalanwalts, lassen erahnen, dass es den niederländischen Behörden nicht darum geht, die Mütter tatsächlich zur Ausreise zu zwingen, sondern darum, ihnen Sozialleistungen vorzuenthalten, da diese nur Personen mit Aufenthaltsberechtigung gewährt werden. Das scheint in derartigen Fällen bislang gängige Praxis der niederländischen Behörden gewesen zu sein, sofern die Mütter nicht beweisen konnten, dass das Sorgerecht nicht durch die Väter alleine ausgeübt werden könne. Ein solcher Beweis wird jedoch nur ausnahmsweise zu erbringen sein, etwa wenn der Vater verstorben oder inhaftiert ist. Damit war es also in diesen Fällen die Regel, dass den betroffenen Alleinerziehenden, in der Praxis also meist den Müttern, Sozialleistungen vorenthalten wurden.
Es ist gut, dass der EuGH dieser Praxis nunmehr einen Riegel vorschiebt. Denn Alleinerziehende leisten durch ihre Erziehungsarbeit einen Beitrag, der ohnehin kaum vergütet wird. Als alleinerziehende Ausländerinnen haben die Mütter der hier entschiedenen Fälle es noch einmal schwerer. Ihnen zumindest einen Anspruch auf Kindergeld und Sozialhilfe zuzugestehen, kann nicht zu viel verlangt sein.
Der Autor Marcel Keienborg ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Uni Düsseldorf. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist das Migrationsrecht.
EuGH stärkt Rechte drittstaatsangehöriger Eltern: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22880 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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