Während die Parteien noch über einen flächendeckenden und einheitlichen Mindestlohn verhandeln, gibt es in einigen Branchen bereits eine Lohnuntergrenze. Nur wie wird korrekt berechnet, ob diese eingehalten wird? Ist der Stundenlohn allein ausschlaggebend? Darf ein 13. Monatsgehalt angerechnet werden? Der EuGH gab den Arbeitgebern nun einigen Gestaltungsspielraum, meint Michael Fuhlrott.
Sie dachten, in Deutschland gäbe es bislang keinen Mindestlohn? Dass Union und SPD doch gerade erst über eine Einführung verhandelten? Und fragen sich, wieso der Europäische Gerichtshof (EuGH) dann plötzlich in einem deutschen Verfahren über die Berechnung eines Mindestlohns entscheidet?
Weil es eben auch in Deutschland bereits Mindestlöhne gibt. Richtig ist lediglich, dass es keinen allgemeinen Mindestlohn gibt, der in Baden-Württemberg wie in Brandenburg und für Friseure wie für Köche gleichermaßen gilt. Durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsgesetz (TVG) oder durch die Aufnahme bestimmter Branchen in den Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) können und werden allerdings bereits branchenspezifische Mindestlöhne festgelegt, etwa für Gebäudereiniger, das Sicherheitsgewerbe und Wäschereien.
Das Gehalt in diesen Branchen muss den gesetzlich fixierten oder dem im für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag festgehaltenen Lohn erreichen. Wie genau die Höhe des Gehalts bestimmt wird, ob dabei nur der eigentliche Stundenlohn oder auch andere Leistungen des Arbeitgebers zu berücksichtigen sind, darüber hatte am Donnerstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu entschieden und er gab sich liberal: Neben dem Stundenlohn können auch sonstige Vergütungsbestandteile berücksichtigt werden, solange diese das Verhältnis zwischen der Arbeitsleistung und der Gegenleistung des Arbeitgebers nicht verändern. Es kommt also nicht darauf an, wie die Parteien die Leistung nennen (Urt. v. 07.11.2013, Az. C-522/12).
7,90 Euro pro Stunde statt 8,15 Euro
Geklagt hatte ein Gebäudereiniger gegen seine Arbeitgeberin, die DB Services GmbH. Im Rahmen dieses Rechtsstreits musste das Bundesarbeitsgericht (BAG) beurteilen, welche arbeitgeberseitigen Zahlungen bei der Bemessung des Mindestlohnes zu berücksichtigen sind (Az. 4 AZR 168/10). Neben einem Brutto-Stundenlohn von zuletzt 7,90 Euro erhielt der Mann im Jahr zwei pauschale Einmalzahlungen von insgesamt 750 Euro sowie monatlich vermögenswirksame Leistungen i.H.v. 13,29 Euro.
Da der vorgesehene Mindestlohn 8,15 Euro pro Stunde betrug, machte der Kläger die Differenz zu seinem Stundenlohn gerichtlich geltend. Die DB Services berief sich darauf, dass der Mindestlohn erreicht werde, weil die Einmalzahlungen und die vermögenswirksamen Leistungen anzurechnen seien.
Begriff "Mindestlohn" entstammt der EU-Entsenderichtlinie
Während die Erfurter Richter in einem Parallelverfahren vom gleichen Tag die Klage eines anderen Arbeitnehmers abwiesen und eine stündlich gezahlte "Verkehrsmittelzulage" auf den Stundenlohn anrechneten (Urt. 18.04.2012, Az. 4 AZR 139/10), legten sie den Fall des Gebäudereinigers dem EuGH zur Klärung vor, da es zur Anrechnung von vermögenswirksamen Leistungen und Einmalzahlungen noch keine gefestigte Rechtsprechung gab.
Von den Luxemburger Kollegen wollte das BAG wissen, wie der Begriff "Mindestlohnsätze" zu verstehen ist. Denn dieser kommt nicht nur im deutschen AEntG vor, sondern auch in Art. 3 Abs. 1 der dem AEntG zugrunde liegenden europäischen Entsenderichtlinie. Bislang rechnet das BAG Leistungen an, die "funktional gleichwertig" mit dem normalen Arbeitsentgelt die Arbeitsleitung entlohnen.
Um diesen Begriff national wie auch supranational einheitlich auslegen zu können, müsse eine Klärung durch Luxemburg erfolgen, so die Erfurter Richter. Nach der Rechtsauffassung des BAG dürften vermögenswirksame Leistungen nicht, die Einmalzahlungen hingegen durchaus zur Berechnung des Mindestlohns berücksichtigt werden.
Zahlung muss im Zusammenhang zur Arbeitsleistung stehen
Der EuGH billigte im Wesentlichen diese Beurteilung durch das BAG: Auch die Entsenderichtlinie erlaube unter dem Begriff des Mindestlohnsatzes andere Vergütungsbestandteile als den eigentlichen Stundenlohn zu fassen. Wichtig sei nur, dass "das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers auf der einen und der Gegenleistung, die er dafür erhält, auf der anderen Seite, nicht verändert" werde.
Ob dieses Verhältnis gewahrt werde, müssen die nationalen Gerichte prüfen. Gleichwohl gab der EuGH dem BAG noch folgende Hinweise mit auf den Weg: Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung werde unzulässig verschoben, wenn etwa Überstundenzuschläge bei der Bemessung des Mindestlohns berücksichtigt würden, da diese eine besondere Leistung des Arbeitnehmers honorierten.
Auch vermögenswirksame Leistungen will der EuGH nicht unbedingt anrechnen lassen. Denn diese zielten darauf ab, Vermögen zu bilden und verfolgten damit ein sozialpolitisches Ziel. Bei außerhalb des monatlichen Abrechnungszeitraumes gezahlten Einmalzahlungen müssten die nationalen Gerichte ebenfalls prüfen, ob die Zahlung in direktem Zusammenhang zur Arbeitsleistung stehe.
Formulierungsgeschick gefragt
Eine Änderung der nationalen Rechtsprechung ist nach dem Urteil des EuGH nicht zu erwarten. In Branchen, die derzeit bereits einem Mindestlohn unterliegen, dürfen Arbeitgeber damit vereinbarte Stundenlöhne unterschreiten, wenn sie zusätzlich anrechenbare Leistungen wie etwa ein 13. oder 14. Gehalt gewähren.
Anderes gilt für etwa pauschal erstatteten Aufwendungsersatz oder Leistungen, die einen anderen Zweck als die Entlohnung der Arbeit verfolgen – wie vermögenswirksame Leistungen. Ausschlaggebend wird daher das Formulierungsgeschick des Arbeitgebers sein. Bei der Ausgestaltung des Arbeits- oder Tarifvertrags wird er die Rechtsprechung aus Luxemburg im Blick behalten müssen.
Aber auch Union und SPD sollten das Urteil bei ihren Koalitionsverhandlungen nicht übersehen. Denn sollte es zu einem flächendeckenden Mindestlohnes in Deutschland kommen, wird sich auch dabei die Frage stellen: Soll es einzig auf die plakativ geforderten 8,50 Euro pro Stunde ankommen oder dürfen auch hier sonstige Leistungen der Arbeitgeber angerechnet werden?
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht, insb. Arbeitsrecht der Fachhochschule Bielefeld sowie Lehrbeauftragter für Arbeitsrecht der Hochschule Fresenius in Hamburg.
Michael Fuhlrott, EuGH zur Berechnung eines Mindestlohns: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9989 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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