Flüchtlinge dürfen sich gegen Abschiebungsanordnungen, die ergehen, bevor der Zielstaat zugestimmt hat, verteidigen. Das hat der EuGH entschieden. Richtig - wenn auch wenig überraschend, meint Marcel Keienborg.
EU-Staaten dürfen Asylbewerber nicht ohne Weiteres in jenes EU-Land zurückschicken, in dem diese zuvor internationalen Schutz beantragt haben. Die Entscheidung, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag gefällt hat, liegt auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung zur Dublin-III-Verordnung (Dublin-III-VO), die der EuGH seit seiner "Ghezelbash"-Entscheidung entwickelt hat. Auf diese Rechtsprechung nimmt der EuGH denn auch in dieser Entscheidung ausführlich Bezug (vgl. z.B. Urt. v. 07.06.2016, Az C 63/15 Ghezelbash; Urt. v. 26.07.2017, Az. C 670/16 Mengesteab; Urt. v. 25.10.2017, Az C 201/16 Shiri).
In allen diesen Entscheidungen hat der Gerichtshof immer wieder betont, dass das in Art. 27 Dublin-III-VO zugunsten der Flüchtlinge vorgesehene Rechtsmittel eine umfassende Prüfung der korrekten Einhaltung durch die Verordnung vorgesehenen Verfahren und Fristen umfasst. Man fragt sich also fast, warum sich der EuGH hier überhaupt erneut mit dieser Frage befassen musste.
Vorgelegt wurde sie von einem französischen Gericht. Der Kläger selbst war irakischer Staatsangehöriger. Er hatte in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Was aus diesem Antrag geworden ist, verrät der EuGH nicht. Der Kläger ist aber jedenfalls weitergereist nach Frankreich, wo er aufgegriffen und festgenommen wurde. Noch am selben Tag entschieden die französischen Behörden, ihn in Verwaltungshaft zu nehmen und ihn nach Deutschland zu überstellen, und teilten ihm diese Entscheidung mit. Außerdem richteten sie ein Übernahmeersuchen nach der Dublin-III-VO an die deutschen Behörden. Das bedeutet praktisch, dass die französischen Behörden den deutschen Behörden mitgeteilt haben, dass sie sich für den Kläger für unzuständig hielten und ihn zurück nach Deutschland überstellen wollten, damit sein Asylantrag hier weiter bearbeitet werden kann.
EuGH: Vorgehen Frankreichs europarechtswidrig
Die Dublin-III-VO sieht in ihren Artikeln 21 bis 25 ein nach verschiedenen Fallgruppen ausdifferenziertes Verfahren für die Behandlung solcher Übernahmeersuchen vor. Dies umfasst insbesondere Fristen, sowohl für die Ersuchen selbst, wie auch für die Antwort auf diese Ersuchen. Dabei gilt allerdings Schweigen als Zustimmung, wenn also der ersuchte Staat nicht innerhalb dieser Frist auf das Ersuchen antwortet, gilt dies als "fiktive" Zustimmung.
Was nun aber das französische Gericht dazu veranlasste, den EuGH mit diesem Fall zu befassen, war die Tatsache, dass die französischen Behörden dem Kläger ihre Entscheidung, den Kläger nach Deutschland zu überstellen, schon mitgeteilt hatten, ohne überhaupt abzuwarten, ob und wie sich die deutschen Behörden zu dem Übernahmeersuchen verhalten. Aus den Ausführungen des EuGH ergibt sich, dass diese Vorgehensweise in Frankreich bis jetzt offenbar üblich war. Die Behörden hatten dann zwar nicht vor, die Überstellungsentscheidung tatsächlich zu vollstrecken, bevor die Zustimmung des anderen Mitgliedstaats vorlag; dies wäre wohl auch kaum möglich.
Nach einer verbreiteten Auffassung war die Bekanntgabe der Überstellungsentscheidung jedoch Voraussetzung für die Anordnung der "Verwaltungshaft". Es ging den französischen Behörden also darum, den Kläger bis zur endgültigen Klärung inhaftieren zu können. Ob diese Praxis mit der Dublin-III-VO vereinbar war, war innerhalb der französischen Rechtsprechung bisher offenbar umstritten. Das vorlegende Gericht hatte Bedenken und wollte deswegen die Klärung durch den EuGH.
Wie im Übrigen auch schon der Generalanwalt beim EuGH zuvor befand nun auch der EuGH diese Bedenken für durchgreifend. Konkret geht es dabei um die Auslegung des Art. 26 Abs. 1 S. 1 Dublin-III-VO. Darin heißt es: "Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme […] zu, setzt der ersuchende Mitgliedstaat die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis […]." Etwas untypisch für den EuGH greift er dabei auf die klassische juristische Methodenlehre zurück und legt die Vorschrift ausdrücklich nach ihrem Wortlaut, ihrer Systematik, ihrer Entstehungsgeschichte und teleologisch aus. Dabei kommt er immer zu demselben Ergebnis: Die Überstellungsentscheidung darf erst ergehen und zugestellt werden, nachdem der ersuchte Mitgliedstaat zugestimmt hat, wobei freilich eine fiktive Zustimmung durch Nichtbeantwortung eines Übernahmeersuchens genügt. Die Vorgehensweise der französischen Behörden ist also europarechtswidrig.
Wirksamkeit von Rechtsbehelfen in Frage gestellt
Insbesondere im Zusammenhang mit der systematischen und der teleologischen Auslegung der Vorschrift weist der EuGH auch, im Anschluss an seine bisherige Rechtsprechung zur Dublin-III-VO, auf die Bedeutung und den Umfang des in Artikel 27 vorgesehenen Rechtsbehelfs hin, der Flüchtlingen eine umfassende Überprüfung einer Überstellungsentscheidung zugesteht. Der EuGH sieht die Wirksamkeit dieses Rechtsbehelfs in Frage gestellt, würde man eine Zustellung der Überstellungsentscheidung zulassen, bevor bekannt ist, ob und wie der ersuchte Mitgliedstaat sich zu einem Aufnahmeersuchen verhält. Denn die Zustellung setzt möglicherweise selbst Fristen für den Rechtsbehelf nach Maßgabe des jeweils nationalen Rechts (in Deutschland: eine Woche, §§ 34a Abs. 2 S. 1, 74 Abs. 1 Asylgesetz) in Gang. Die betroffene Person müsste den Rechtsbehelf dann möglicherweise fristwahrend erheben, bevor der ersuchte Mitgliedstaat dem Ersuchen zugestimmt hat, oder eben auch nicht. Der EuGH hält dies für problematisch, da der ersuchte Mitgliedstaat in einer Antwort möglicherweise selbst verfahrensrelevante Beweise und Indizien benennen würde, auf die sich die betreffende Person dann aber nicht berufen kann.
Schließlich weist der EuGH allerdings auch darauf hin, dass die Zustellung der Überstellungsentscheidung nach der Dublin-III-VO auch keine Voraussetzung für die Inhaftierung des Klägers sei. Diese sei vielmehr nach Maßgabe der Art. 28 Abs. 2 und 3 Dublin-III-VO auch in der Zwischenzeit möglich.
Für Deutschland dürfte das Urteil praktisch kaum Auswirkungen haben. Das hier zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erlässt Abschiebungsanordnungen schon jetzt regelmäßig erst, wenn die Zustimmung des anderen Mitgliedstaats zumindest fiktiv vorliegt.
Der Autor Marcel Keienborg ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Uni Düsseldorf. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist das Migrationsrecht.
EuGH zu Überstellungsentscheidungen: . In: Legal Tribune Online, 01.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28913 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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