Der EuGH verhandelte am Donnerstag mündlich über die Ansprüche Reisender nach dem Flug-Chaos bei Tuifly. Robert von Steinau-Steinrück erklärt, was es mit dem "go sick" auf sich hat und warum es nur Verlierer geben wird.
In gleich mehreren Rechtssachen (u. a. C-195/17 sowie C-292/17) verhandelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag über die Kernfrage, ob ein sogenannter wilder Streik (auch "go sick") als ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne der Fluggastrechte-Verordnung (VO) gewertet werden kann. Hintergrund ist das medial deutschlandweit bekannt gewordene Flug-Chaos bei der Tuifly.
Diese informierte die Mitarbeiter Ende September 2016 über Umstrukturierungspläne, welche bei der Belegschaft auf massiven Widerstand stießen. In den folgenden Tagen nahm der Krankenstand beim Cockpit- und Kabinenpersonal erheblich zu. Nach Ansicht von Tuifly handelte es sich dabei um einen wilden Streik, also eine arbeits- und tarifrechtlich nicht legitimierte Arbeitsniederlegung. Die Fluggesellschaft musste daraufhin ihre Flugplanung vollständig umorganisieren, viele Flüge fielen aus oder verspäteten sich massiv.
In den zahlreichen zu entscheidenden Fällen verlangen Fluggäste, deren Flüge annulliert wurden, von Tuifly Entschädigung nach der Fluggastrechte-VO Nr. 261/2004.
Wilde Streiks nur schwierig zu beweisen
Wilde Streiks sind rechtlich unzulässige Maßnahmen, gegen die sich der Arbeitgeber jedoch aufgrund von Beweisschwierigkeiten in der Praxis kaum wehren kann. Es spricht alles dafür, dass es sich bei den vielen plötzlichen Krankmeldungen im Fall Tuifly um einen solchen wilden Streik handelte. In dieses Bild passt vor allem, dass der Krankenstand nach der Mitteilung über eine Einigung mit der Arbeitnehmervertretung schlagartig zurückging.
Rechtlich dürfte für den EuGH entscheidend werden, ob das Management von Tuifly damit rechnen musste, dass sich teilweise über 80 Prozent der Cockpitmitglieder aufgrund der Umstrukturierungsmaßnahmen krank melden würden. Wiederum spricht einiges dafür, dass das eher nicht der Fall ist.
Inwiefern ein "go sick" einen außergewöhnlichen Umstand nach Art. 5 III Fluggastrechte-VO darstellt, ist umstritten. Liegt ein solcher außergewöhnlicher Umstand jedoch vor, ist ein Luftfahrtunternehmen nach Art. 5 III Fluggastrechte-VO nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gem. Art. 7 an die Fluggäste zu leisten. Die Verpflichtung zur Ausgleichszahlung entfällt somit, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
Rechtsprechung uneins, Tendenz aber erkennbar
Das Vorliegen eines wilden Streiks wird überwiegend als außergewöhnlicher Umstand iSd Art. 5 III Fluggastrechte-VO bewertet (so LG Stuttgart v. 26.10.2017, Az. 5 S 133/17; BGH v. 21.08.2012, Az. X ZR 138/11; EuGH Urt. v. 22.12.2008, Az. C-549/07). Davon abweichend beurteilte das AG Hannover (Urt. v. 05.07.2017, Az. 410 C 1393/17) das Vorliegen eines wilden Streiks nicht als außergewöhnlichen Umstand: Bei einem vorsätzlichen Vertragsbruch der eigenen Arbeitnehmer außerhalb der verfassungsrechtlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit verwirkliche sich lediglich das allgemeine Betriebsrisiko, weshalb kein außergewöhnliches Ereignis iSd Art. 5 III vorliege, so das Gericht.
Dieser Argumentation widerspricht das LG Stuttgart. Einerseits sei es nicht ersichtlich, warum das unternehmerische Risiko sich nicht auch bei einem gewerkschaftlich organisierten Streik verwirklichen sollte. Außerdem sei nicht die Verwirklichung eines unternehmerischen Risikos das entscheidende Kriterium für das Vorliegen eines besonderen Umstandes, vielmehr komme es darauf an, ob der eintretende Umstand noch Teil der normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens ist. Genau dies soll jedoch nicht der Fall sein, wenn sich ein ganz erheblicher Teil der Mitarbeiter im Rahmen eines organisierten "go sick" zusammenschließt und gemeinsam krank meldet.
Ähnlich sehen es auch BGH und EuGH. Entscheidend ist nach Ansicht der Gerichte, dass es sich um einen Umstand handeln muss, der nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entspricht und außerhalb dessen liegt, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Die entscheidende Frage ist daher, ob es sich um einen Umstand handelt, der aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Flugverkehrs herausragt.
Damit wiederum ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Je früher das Luftfahrtunternehmen von einem möglichen ordentlichen oder wilden Streik Kenntnis erlangt, desto wahrscheinlicher ist die Annahme, dass es auf diese Situation reagieren kann. Dabei hat das Luftfahrtunternehmen grundsätzlich darauf hinzuwirken, dass die Beeinträchtigung für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfällt. Meldet sich - wie im Tuifly-Fall - jedoch plötzlich ein Großteil der beschäftigten Arbeitnehmer krank, ohne dass der Arbeitgeber dies mit zumutbaren Maßnahmen verhindern kann, so dürfte nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein außergewöhnlicher Umstand iSd Art. 5 III Fluggastrechte-VO vorliegen.
Tuifly womöglich "selbst schuld"?
Der Fluggesellschaft kann dabei auch nicht vorgeworfen werden, das Ereignis durch die Gespräche über die geplante Umstrukturierung des Unternehmens herausgefordert zu haben. Die unternehmerische Freiheit kann nicht dahingehend eingeschränkt werden, dass die Belegschaft durch die Aufnahme von ordentlichen oder wilden Streiks den Arbeitgeber dazu "zwingt", geplante Umstrukturierungsmaßnahmen zu unterlassen. Die Aufgabe von Umstrukturierungen des Unternehmens wäre nicht zumutbar iSd Art. 5 III Fluggastrechte-VO.
Bewertet der EuGH das kollektive Fernbleiben also auch in diesem Fall als einen wilden Streik, dann dürfte er das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands nach Art. 5 III Fluggastrechte-VO annehmen. Den betroffenen Fluggästen stünden dann keine Ausgleichsansprüche nach Art. 7 der VO zu.
So der so bleibt der ganze Vorfall aber ein Ärgernis, weil man die eigentlich Verantwortlichen nicht belangen kann und letztlich nur die Frage bleibt, ob am Ende die Fluggesellschaft oder die Passagiere die Gelackmeierten sind.
Der Autor Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück ist Partner bei Luther Rechtsanwälte in Berlin und auf das Arbeitsrecht spezialisiert. Er berät und vertritt zahlreiche Unternehmen bei Arbeitskämpfen.
Tuifly vor dem EuGH: . In: Legal Tribune Online, 26.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26711 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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