Der EuGH hat heute der Argumentation von VW und deutschen Behörden, wonach das Abschalten der Abgasreinigung bei bestimmten Temperaturen aus Motorschutzgründen zulässig sei, eine klare Absage erteilt. Verbraucher haben Ansprüche.
Eine Software für Dieselfahrzeuge, die die Abgasreinigung bei üblichen Temperaturen und während des überwiegenden Teils des Jahres verringert, stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu den sogenannten Thermofenstern entschieden (Urt. v. 14.7.22, Rs.: C-217/20, C-134-20, C-145/20).
Gegenstand der Verfahren ist eine Software von Volkswagen (VW), die aber auch von fast allen anderen Herstellern verwendet wird. Sie ist so programmiert, dass die Einhaltung von Grenzwerten nur im Bereich bestimmter Temperaturen gewährleistet ist - und zwar - laut EuGH - nach Feststellungen von österreichischen Gerichten nur im Bereich zwischen 15 und 33 Grad, das sogenannte Thermofenster. Demnach wird bei in Europa völlig üblichen Temperarturen von unter 15 Grad die Abgasreinigung bereits gedrosselt und dann weiter auf 0 gesenkt. Die Autos stoßen somit viel mehr giftiges und gesundheitsschädliches Stickstoffoxid aus, als gesetzlich vorgesehen.
Abschalten bei völlig üblichen Temperaturen ist illegal
Im konkreten vor dem EuGH verhandelten Fall handelte es sich um Thermofenster aus einem Update der Software, das VW zum Austausch der illegalen Software vorgenommen hatte, die den Diesel-Skandal 2015 auslöste. Das deutsche Kraftfahrt-Bundesamt hatte eine Genehmigung für dieses Update erteilt. Es war zu dem Ergebnis gekommen, dass Thermofenster nicht gegen das Verbot der unzulässigen Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 der EG-Verordnung Nr. 715/2007 verstoßen.
Anders nun der EuGH: Nachdem dieser bereits zuvor in Urteilen recht deutlich Stellung bezogen hatte, stuft er Thermofenster nun ausdrücklich als illegal ein. Er weist auch darauf hin, dass Umgebungstemperaturen von weniger als 15 Grad Celsius im Unionsgebiet üblich sind. Hintergrund für den Hinweis ist die Definition der Abschalteinrichtung in Art. 3 Nr. 10 EG 715/2007, wonach eine Abschalteinrichtung vorliegt, wenn die Wirksamkeit der Abgasreinigung unter Bedingungen, die bei normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwarten ist, verringert wird.
EuGH erklärt Rechtfertigung "Motorschutz" klare Absage
Auch entschied der EuGH, dass die Rechtfertigung von VW und anderer Hersteller, das Thermofenster sei aus Motorschutzgründen erforderlich, nicht greifen kann. Und zwar aus drei Gründen: Zum ersten stellt der EuGH fest, dass diese Ausnahme nicht für Verschleiß und für bloße Schonung des Motors gilt.
Zum zweiten entschied er erstmals, dass die Abgasreinigung dem Stand der Technik entsprechen muss. Ein Abschalten aus Motorschutzgründen sei nur dann "notwendig" im Sinne der Verordnung, wenn "keine andere technische Lösung" den Motorschaden abwenden kann.
Hersteller dürfen also nicht sehenden Auges teure Technik sparen, um sich später darauf zu berufen, das Abgasreinigungssystem müsse abgeschaltet werden, sonst gehe das Auto kaputt. Diese andere technische Lösung war und ist aber vorhanden - nämlich moderne SCR-Katalysatoren mit AdBlue-Technik. So kann der Wagen auch bei niedrigen Temperaturen die Abgaswerte einhalten, ohne dass das Fahrverhalten beeinträchtigt wird.
Und der EuGH geht – zum dritten – noch einen Schritt weiter. Selbst wenn die Ausnahme Motorschutz an sich greifen würden, wäre eine Abschalteinrichtung, die den überwiegenden Teil des Jahres nicht funktioniere, unzulässig. Andernfalls wäre die Ausnahme öfter anwendbar als das Verbot, was eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Grundsatzes der Begrenzung der Stickstoffoxidemissionen von Fahrzeugen zur Folge hätte.
VW lenkt nicht ein
Da der EuGH nur Vorlagefragen klärt, stufte er selbst das Thermofenster von VW nicht als rechtswidrig ein, sondern verwies wie üblich darauf, dass die Feststellung Sache der vorlegenden Gerichte sei. Nach diesem eindeutigen Urteil dürften die österreichischen Gerichte jedoch keinen weiteren Spielraum haben.
VW zeigt sich gleichwohl beharrlich optimistisch. In einer Stellungnahme gegenüber LTO behauptet der Konzern sogar, er fühle sich durch das Urteil des EuGH in seiner Rechtsauffassung bestätigt. Die Abgasrückführung sei die meiste Zeit des Jahres aktiv, funktioniere bis 10 Grad zu 100 Prozent, was der EuGH aufgrund eines technischen Fehlverständnisses übersehen habe. Die verwendeten Thermofenster seien legal. Auf Rückfrage von LTO, wie diese Auffassung angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum "Stand der Technik" zu halten sei, antwortete VW gegenüber LTO, es habe in den für die Zulassung maßgeblichen Jahren 2008 bzw. 2009 keine andere Technik gegeben, um den Motor vor Beschädigung zu schützen.
Den auch für die Deutsche Umwelthilfe tätigen Abgasexperten Axel Friedrich überzeugt der Rechtfertigungsversuch von VW nicht. Gegenüber LTO verweist er darauf, dass im Impact Assessment der EU Kommission vor der Verabschiedung der Verordnung vom Einsatz von wirksamen SCR-Katalysatoren ausgegangen worden sei, weil klar war, dass ansonsten die Grenzwerte nicht eingehalten werden könnten. Diese Technolgie wurde von den deutschen Herstellern dann auch in den USA Modellen eingesetzt. Auch die Argumentation mit 10 Grad sei abstrus. Denn schließlich lag die mittlere Jahrestemperatur 2021 in Deutschland bei 9,1 Grad.
Nach dem EuGH seien wirtschaftliche Interessen der Hersteller schon bei der Festlegung der Grenzwerte berücksichtigt worden. Hiernach müssten die Grenzwerte nun auch eingehalten werden.
Gewährleistung ja, aber Frage nach Schadensersatz noch offen
Was die Ansprüche von Käufern angeht, entschied der EuGH, dass ein Thermofenster vertragswidrig sei und Nachbesserungsansprüche oder Ansprüche auf Ersatzlieferung zur Folge haben kann. Auch eine Vertragsauflösung bei unterbliebener Nacherfüllung komme in Betracht, denn die Vertragswidrigkeit sei nicht als "geringfügig" einzustufen - und zwar auch dann nicht, wenn sich Verbraucher in Kenntnis der Existenz von Thermofenster zum Kauf entschlossen haben.
Nicht entschieden hat der EuGH in diesem Verfahren über die Frage, ob auch Schadensersatz gegen die Hersteller verlangt werden kann. Hier vertritt der Bundesgerichtshof (BGH) die Ansicht, dass "Thermofenster" jedenfalls keine sittenwidrige Schädigung darstellen und derartige Ansprüche ausscheiden. Doch auch insofern ist nicht das letzte Wort gesprochen. In den beim EuGH anhängigen Verfahren hat der Generalanwalt des EuGH vertreten, dass die EU-Abgasregeln auch Rechte von Dieselkäufern schützen sollen.
Danach würden Autohersteller schon bei Fahrlässigkeit haften und nicht erst bei vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung. Sollte der EuGH dieser Auffassung folgen, dürfte eine neue Klagewelle auf VW und andere Automobilhersteller zukommen.
* Dieser Artikel wurde am 15.7 um die Stellungnahme von Herrn Axel Friedrich ergänzt.
EuGH zum VW-Dieselskandal: . In: Legal Tribune Online, 14.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49051 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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