Richtlinienvorschlag aus Brüssel: EU-Kom­mis­sion will Platt­form­ar­beit regu­lieren

Gastbeitrag von Dr. Tatjana Ellerbrock

06.01.2022

Die EU-Kommission will über digitale Plattformen Beschäftigte sozial absichern und Arbeitsbedingungen verbessern. Der richtige Ansatz lässt für die Praxis noch viele Fragen offen, findet Tatjana Ellerbrock.

Der durch die Covid-Pandemie noch beschleunigte, digitale Wandel wirkt sich auch auf die Arbeitsmärkte aus. Immer mehr Menschen bieten ihre Arbeitskraft auf digitalen Plattformen an. Die EU-Kommission schätzt, dass EU-weit über 28 Millionen Menschen über digitale Arbeitsplattformen tätig sind. 90 Prozent der Plattformarbeitenden haben bisher den Status von Selbstständigen. 

Mit ihrem am 9. Dezember 2021 veröffentlichten Richtlinienvorschlag will die EU-Kommission durch das Setzen von europäischen Mindeststandards die Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten verbessern.

Denn für die Bestimmung des arbeitsrechtlichen Status von Plattformarbeitenden hält das geltende Recht bisher keine klare Antwort bereit. Diskussionsthema ist insbesondere die Frage, ob diese Personen Arbeitnehmende oder Selbstständige sind. Nach deutschem Recht, konkret § 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), ist Arbeitnehmer:in, wer weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit erbringt. Nach dieser allgemeinen Definition ist eine Einordnung jedoch nicht immer unproblematisch, da Abgrenzungskriterien fehlen.

Relevanz des richtigen Status

Die Einordnung ist sowohl für Plattformbetreibende, als auch für Plattformarbeitende von erheblicher Relevanz: Für Arbeitnehmer:innen gelten im Gegensatz zu Selbstständigen arbeitsrechtliche Schutzvorschriften wie beispielsweise ein gesetzlicher Mindestlohn, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüche und Kündigungsschutz.

Plattformbetreibende riskieren bei einer fälschlich vorgenommenen Einstufung der Plattformarbeitenden als Selbständige insbesondere sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen: Sie haften rückwirkend für den vollständigen Arbeitgeber:innen- und Arbeitnehmer:innenanteil zur Sozialversicherung und können sich u.U. sogar strafbar machen wegen der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen, § 266a Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). 

Den Beschäftigungsstatus betreffende Rechtsstreitigkeiten nehmen in der EU zu. Die Rechtsprechung ist in diesen Fällen keinesfalls einheitlich. Rechtssicherheit ist für beide Seiten bisher nicht vorhanden; vor allem, weil es an einheitlichen EU-weit geltenden Vorgaben fehlt.

Widerlegbare Vermutung für Status als Arbeitnehmende

Nach Schätzungen der EU-Kommission könnten 5,5 Millionen Plattformarbeitende derzeit falsch, nämlich als Selbstständige, eingestuft sein. Von der EU-Kommission wurde ein Kriterienkatalog entwickelt, nach dem beurteilt werden soll, ob eine abhängige oder selbstständige Tätigkeit vorliegt. Durch die korrekte Einstufung soll Plattformarbeitenden der Zugang zu Arbeitnehmer:innenrechten ermöglicht werden. 

Der von der EU-Kommission entwickelte Kriterienkatalog sieht folgende fünf Kriterien vor: Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung, die Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege, die Einschränkung der Möglichkeiten, Arbeits- oder Abwesenheitszeiten frei zu wählen, Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen oder Unterauftragnehmer oder Ersatzkräfte in Anspruch zu nehmen, die Festlegung bestimmter verbindlicher Regeln in Bezug auf Erscheinungsbild und Verhalten gegenüber dem Empfänger der Dienstleistung bzw. in Bezug auf die Arbeitsleistung sowie die Einschränkung der Möglichkeit, einen Kundenstamm aufzubauen oder Arbeiten für Dritte auszuführen.

Liegen zwei dieser fünf Kriterien (bspw. Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung und Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege) vor, wird ein widerlegbarer Arbeitnehmer:innenstatus vermutet. Hierbei soll nicht auf den oder die einzelne:n Arbeitnehmer:in, sondern auf die Plattform abgestellt werden. Entscheidend soll sein, ob der/die Plattformbetreiber:in ein gewisses Maß an Kontrolle über die Plattformarbeitenden ausübt. Ist dies der Fall, so wird vermutet, dass der/die Plattformbetreiber:in Arbeitgeber:in und der/die Plattformarbeiter:in Arbeitnehmer:in ist. Der Vorschlag enthält hierfür eine Beweislastregelung, nach der die Beweislast für das Nichtvorliegen eines Arbeitsverhältnisses beim der oder dem Plattformbetreiber:in liegen soll.

Darüber hinaus zielt der Richtlinienvorschlag auf eine Verbesserung der Durchsetzung und Rückverfolgbarkeit. Plattformbetreiber werden aufgefordert, die Tätigkeit in dem Land anzumelden, in welchem sie erbracht wird. Bei Verstößen drohen Sanktionen. Die Festlegung von Sanktionen wird nach dem Vorschlag den EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie aufgetragen. Festgelegt wird lediglich, dass diese "wirksam, verhältnismäßig und abschreckend" sein sollen, heißt es in Art. 19 Abs. 3 des Richtlinienvorschlags.

Plattformbetreibende sollen außerdem verpflichtet werden, Kommunikationskanäle für die Plattformarbeitenden zu schaffen, damit sich diese selbst organisieren und von Arbeitnehmervertreter:innen kontaktiert werden können. Das soll nach der Vorstellung der EU-Kommission den sozialen Dialog stärken und Tarifverhandlungen ermöglichen.

Alle Plattformen in der EU umfasst

Der Richtlinienvorschlag findet Anwendung auf Plattformen, die die Arbeit von Einzelpersonen organisieren. Soweit die Plattformarbeit innerhalb der EU erbracht wird, ist der Herkunftsort nicht entscheidend. 

Sie gilt jedoch nicht für digitale Plattformen, die lediglich Angebot und Nachfrage nach Dienstleistungen auflisten oder verfügbare Diensteanbieter anzeigen. 

Damit wären alle Unternehmen innerhalb der EU umfasst, die eine kommerzielle Dienstleistung auf elektronischem Wege aus der Ferne und auf Anfrage eines Leistungsempfängers erbringen und deren Dienstleistung die Arbeitsorganisation von Einzelpersonen als wesentlichen Bestandteil beinhaltet. Auf die Größe dieses Unternehmens soll es nicht ankommen.

Vorschlag ist erst der Anfang

Der Richtlinienvorschlag stellt den Beginn des Gesetzgebungsverfahrens dar. Änderungen können vom Europäischen Parlament und Europäischen Rat oder in weiteren Konsultationen durch dritte Institutionen eingebracht werden. Durchschnittlich dauert es ca. 18 Monate von der Annahme eines Richtlinienvorschlags bis zur Umsetzung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Sollte die Richtlinie beschlossen werden, haben die Mitgliedstaaten regelmäßig zwei Jahre Zeit, um sie in nationales Recht umzusetzen. 

Auch im Koalitionsvertrag der neuen deutschen Bundesregierung wird auf die hohe Bedeutung von digitalen Plattformen für die Wirtschafts- und Arbeitswelt hingewiesen. Bereits geplante Gesetzesvorhaben sind dem Koalitionsvertrag jedoch nicht zu entnehmen. Betont wird lediglich, dass die Initiative der EU-Kommission "konstruktiv begleitet" werde und dass gute und faire Arbeitsbedingungen wichtig seien. Die Bundesregierung dürfte vermutlich zunächst das Inkrafttreten der EU-Richtlinie – zumindest die weitere Diskussion darum - abwarten, um dann selbst gesetzgeberisch tätig zu werden.

Richtlinie schafft Sicherheit für Beschäftigte 

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass ein einheitliches Schutzniveau in der Plattformarbeit geschaffen und ausbeuterische Arbeit untersagt werden soll. Ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen verhindert Ausweichreaktionen zulasten der Betroffenen, indem Plattformbetreibende ihre Mitarbeitenden in Mitgliedstaaten mit niedrigerem Schutzniveau rekrutieren. Die Richtlinie soll Rechtssicherheit schaffen, die Menschen benötigen, um ihre Tätigkeit auszuüben. 

Aufgrund der geplanten Vermutung der Arbeitnehmer:inneneigenschaft anhand des Kriterienkatalogs wird es zukünftig zwar einfacher sein, eine Vermutung dieser Eigenschaft zu begründen. Offen bleibt jedoch, wie es Plattformbetreibenden in der Praxis gelingen soll, die vermutete Arbeitnehmer:innenstellung zu widerlegen. Denn dies soll weiterhin nach den national zu treffenden Definitionen passieren. Hier stellen sich eine Vielzahl von Anwendungsfragen, die derzeit noch völlig offen sind.

Es stellen sich aber auch grundsätzliche Fragen: Wie werden Arbeitnehmer:innenschutzrechte wirksam grenzüberschreitend durchgesetzt? Entspricht es überhaupt dem Interesse der meisten Plattformarbeitenden, den Arbeitnehmer:innenstatus zu erlangen oder legen sie nicht vielmehr größeren Wert auf Flexibilität? Wie können Plattformbetreibende die neuen Verpflichtungen rechtssicher erfüllen, ohne das Geschäftsmodell zu gefährden? 

Es ist möglich, dass hinsichtlich der "One-Size-Fits-All"-Lösung der EU-Kommission für den gesamten Bereich der Plattformarbeit seitens des Europäischen Parlaments und des Rates Änderungen vorgeschlagen werden. Die weitere Entwicklung dieser begrüßenswerten Initiative kann daher aus arbeitsrechtlicher Sicht mit Spannung erwartet werden.

Dr. Tatjana Ellerbrock ist Rechtsanwältin und Partnerin bei Mazars in Deutschland. Dort leitet sie die bundesweit tätige Praxisgruppe Arbeitsrecht und ist Mitglied des deutschen Management Boards von Mazars. Sie berät insbesondere mittelständische Arbeitgeber, die öffentliche Hand und NPOs in individual- und kollektivrechtlichen Fragen.

Zitiervorschlag

Richtlinienvorschlag aus Brüssel: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47128 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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