Immer wieder verhindern Versicherungsunternehmen Grundsatzentscheidungen des BGH, wenn es Hinweise gibt, dass diese für sie negativ ausfallen werden – so auch im Fall von Clerical Medical. Der Versicherer zog seine Revision gegen ein Urteil des OLG Dresden wegen Falschberatung im letzten Moment zurück. Uwe Schmidt-Kasparek über eine fragwürdige, aber völlig legale Strategie.
Nun hat Clerical Medical die eigene Revision zurückgezogen. Die für den 8.
Februar 2012 vom Bundesgerichtshof (BGH) angesetzte Verhandlung ist damit geplatzt und die Entscheidung der Dresdner Richter rechtskräftig. "Wir wollen diesen Fall nicht vor dem BGH austragen, denn er ist von besonderen Umständen geprägt. Der Vermittler war nicht hinreichend ausgebildet. Es gab wohl eine eindeutige Falschberatung", begründet Carsten Hennicke, Leiter Recht Clerical Medical Deutschland die Entscheidung seines Unternehmens.
Möglicherweise hätte ein Karlsruher Urteil aber auch eine Wirkung auf Fondspolicen deutscher Lebensversicherer. Dem widerspricht der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV): "Der Einzelfall ist nicht repräsentativ. Eine Relevanz für die gesamte Branche sehen wir daher nicht." Und auch der Ergo-Konzern verweist darauf, dass die generelle Problematik "der Werbung mit überhöhten Gewinnprognosen bei fondsgebundenen Verträgen" im vorliegenden Fall gar keine Rolle spiele.
Rückzug auch bei anderen Verfahren
Doch auch beim Streit um die Transparenz von Ratenzuschlägen bei unterjähriger Zahlung oder der Verjährung von unklaren Lebensversicherungsbedingungen verhindern die Versicherer immer wieder Grundsatzurteile. Dieser Last-Minute-Ausstieg vor dem BGH wird zunehmend kritisiert. So fordert der Bund der Versicherten (BdV) eine Änderung der "ärgerlichen Praxis". BdV-Chef Axel Kleinlein: "Damit verhindern die Versicherer ihre Zahlungen in all den anderen, manchmal Hunderten von Fällen, die einen vergleichbaren Sachverhalt betreffen. Der Gesetzgeber muss eine Änderung zum Schutz der Verbraucher vornehmen."
Die Rücknahme der Revision oder die Einigung mit dem Kläger wird möglich, weil das Gericht keine Überraschungsurteile sprechen darf und den Parteien laut Zivilprozessordnung frühzeitig einen Wink geben muss, wohin die Reise gehen wird. Steigt dann eine Partei aus, kann Karlsruhe in der Sache nicht mehr entscheiden.
Auch andere Juristen fordern eine Reform, so etwa Prof. Christoph Brömmelmeyer von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurta an der Oder sowie der ehemalige BGH-Richter und Versicherungsombudsmann Prof. Wolfgang Römer und der amtierende Versicherungsombudsmann Prof. Günter Hirsch. Sie plädieren dafür, dass dem höchsten deutschen Zivilgericht trotz Rückzug einer Partei ermöglicht wird, ein "Quasi-Urteil" zu sprechen, wenn es um eine Rechtsfrage von herausragender Bedeutung geht. "Solche Regelungen gibt es im Ausland schon", erläuterte Experte Brömmelmeyer.
30 weitere Clerical Medical-Verfahren
Das Problem ist, dass BGH-Urteile – im Rahmen der Verjährung – auch rückwirkend gelten. "Daher ist es keine Wunder, dass die Assekuranzen immer wieder versuchten, enorme Rückwirkungen zu vermeiden", sagt Knut Höra, Versicherungsrechtler der Kanzlei Johannsen Rechtsanwälte aus Frankfurt, die sich auf die Vertretung von Versicherungsunternehmen spezialisiert hat. "Würden die Versicherer jedes Prozessrisiko in ihre Prämien einkalkulieren, dann müsste es für die Versicherten noch deutlich teurer werden", glaubt der Jurist.
Er schlägt daher einen Mittelweg vor, der den Rückzug in letzter Minute verhindert und für die Zukunft Rechtssicherheit schafft. Dazu müsse dem BGH ein grundsätzliches Beschlussrecht eingeräumt werden. Gleichzeitig solle das Gericht die Möglichkeit haben, die Wirkung von einzelnen Beschlüssen nur in Zukunft gelten zu lassen. So könne die fatale Rückwirkung von vermeintlichen Formfehlern in den Bedingungen verhindert werden.
Immerhin ist die Sache mit dem ersten Ausstieg aus einem BGH-Verfahren meist nicht vom Tisch. Andere Betroffene klagen und die Verbraucherschützer sammeln Beschwerden und unterstützen neue Sammelklagen, wie es derzeit rund um die kreditfinanzierten Fondspolice der Clerical Medical passiert. Beim BGH sind bereits rund weitere 30 Klagen in der Sache anhängig. Clerical Medical steht damit ein Ausstiegs-Marathon bevor, will es jeden höchstrichterlichen Spruch vermeiden. Und die Karlsruher Richter haben bereits angekündigt, dass sie in anderen Revisionsverfahren "alsbald" Termine zur mündlichen Verhandlung anberaumen wollen.
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Einigung im Clerical Medical-Streit: . In: Legal Tribune Online, 06.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5502 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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