Deutschland hat in Kindschaftssachen erneut eine Niederlage vor dem EGMR kassiert: Ohne genaue Prüfung dürfen Gerichte einem mutmaßlichen Vater nicht den Umgang mit seinem vemeintlichen Kind verwehren, sonst verletzen sie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Die Bundesregierung täte gut daran, das Urteil vorbehaltslos anzuerkennen, meint Jörn Heinemann.
Dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) lag der Fall eines Mannes aus Fulda zu Grunde, der vergeblich den deutschen Gerichten auf Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn beantragt hatte. Bei der Geburt des Kindes war die Mutter verheiratet gewesen – allerdings nicht mit dem heute 53-Jährigen, sondern mit einem anderen Mann. Da dieser die Vaterschaft nicht angefochten hatte, galt er nach deutscher Rechtslage als Vater des Jungen.
Nach Ansicht der Gerichte nun zählte der Beschwerdeführer grundsätzlich nicht zu den Personen, die Umgang mit dem Kind verlangen können - obwohl er möglicherweise der leiblich Vater ist. Der EGMR sieht darin eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Gerichte hätten bei ihrer Entscheidung die besonderen Umstände des Einzelfalls und die Kindeswohlinteressen nicht ausreichend untersucht (Urt. v. 15.09.2011, Beschwerde-Nr. 17080/07).
Ein Kind zwischen zwei möglichen Vätern
Eigentlich ist das deutsche Recht eindeutig: Wenn die Mutter eines Kindes zum Zeitpunkt der Geburt mit einem Mann verheiratet ist, gilt dieser grundsätzlich als Vater; die Vaterschaft des leiblichen Erzeugers muss von diesem rechtlichen Vater entweder anerkannt oder gerichtlich festgestellt werden.
Die Besonderheit des vorliegenden EGMR-Falls besteht nun darin, dass weder die Mutter noch deren Ehemann oder der Beschwerdeführer wissen, wer der leibliche Vater des Kindes ist. Der mutmaßliche Vater hatte zwar eine mehr als ein Jahr währende sexuelle Beziehung mit der verheirateten Mutter; er hatte diese auch mindestens zweimal zu ärztlichen Untersuchungen wegen der Schwangerschaft begleitet und sogar die Vaterschaft vor dem Jugendamt anerkannt. Da aber vom Ehemann der Mutter keine Einwände gegen seine rechtliche Vaterschaft erhoben worden waren, war die Anerkennung durch den Beschwerdeführer gegenstandslos.
Nach Auffassung der deutschen Gerichte, der sich selbst das Bundesverfassungsgericht anschloß, hätte der Mann die Vaterschaft förmlich anfechten müssen, um auf diesem Weg zum Kreis der umgangsberechtigten Personen zu gehören. Denn Umgang mit dem Kind können neben Großeltern und Geschwistern nur dessen rechtliche Eltern oder enge Bezugspersonen des Kindes verlangen, wenn diese für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben, was im Falle des Beschwerdeführers jedoch mangels Kontakt mit dem Kind nicht der Fall war.
Gerichte haben Interessen des Kindes vernachlässigt
Die Straßburger Richter erkennen zwar an, dass die Entscheidung der deutschen Gerichte mit den maßgeblichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs in Einklang steht und dass diese darauf abzielten, die Interessen des Ehepaares sowie der während der Ehe geborenen Kinder, die bei ihnen leben, zu schützen.
Der EGMR wirft den deutschen Gerichten jedoch vor, die besonderen Umstände des Einzelfalls nicht gewürdigt, vor allem aber die Interessen des betroffenen Kindes überhaupt nicht berücksichtigt zu haben. Zum einen hatte der mutmaßliche Vater deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er an der Entwicklung des Kindes ein gesteigertes Interesse hatte. Zum anderen hatte der mutmaßliche Vater aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen gar keine Gelegenheit, eine Beziehung mit dem Kind aufzubauen, so dass ihm deren Fehlen nicht vorgeworfen werden könne.
Auch dass er die Vaterschaft des Ehemannes der Ex-Geliebten nicht angefochten hatte, kann sich vorliegend nicht zu seinen Ungunsten auswirken. Denn schließlich begehrt der Kläger nicht die Anerkennung seiner Vaterschaft, die mit weitreichenden Folgen verbunden wäre, sondern "nur" Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn. Die eigentliche Rechtsverletzung der deutschen Familiengerichte besteht jedoch darin, die Interessen des betroffenen Kindes erst gar nicht in Erwägung gezogen zu haben.
Der Gerichtshof stellt zu recht auf diese Sichtweise ab, denn das Kind könnte nach deutscher Rechtslage von seiner Mutter die Benennung des leiblichen Vaters verlangen. Gerichte müssen daher vorrangig die Interessen des Kindes ermitteln, ob dieses also frühzeitig den Namen des leiblichen Vaters erfahren und mit ihm Umgang erhalten möchte.
Neues Sorgerecht sollte Richterspruch berücksichtigen
Die Straßburger Richter erkennen die Schwierigkeit, die vorstehende Konstellation mittels einer allgemeinen rechtlichen Vermutungsregelung zu lösen. Insofern kann man dem deutschen Gesetzgeber wohl keinen unmittelbaren Vorwurf machen. Allerdings haben die deutschen Gerichte ihre Aufgabe vernachlässigt, den bestehenden rechtlichen Rahmen zur Gewährung von Umgangsrecht so auszuschöpfen, dass eine gerechte Abwägung der Interessen aller Beteiligten möglich war.
Im Ergebnis werden die Gerichte in Zukunft für jeden Einzelfall überprüfen müssen, ob der biologische Vater nicht doch im Interesse des Kindes als enge Bezugsperson angesehen werden muss - auch wenn er über das Bekenntnis seiner leiblichen Vaterschaft hinaus keine Gelegenheit hatte, die tatsächliche Verantwortung gegenüber dem Kind zu übernehmen.
Die Bundesregierung sollte den Spruch des Gerichtshofs nicht vor die Große Kammer des EGMR bringen, sondern diesen anerkennen. Der deutsche Gesetzgeber muss ohnehin eine Neuregelung des Sorgerechts bei nicht verheirateten Eltern schaffen, und kann dann in diesem Rahmen klargestellen, dass dem leiblichen Vater dann ein Umgangsrecht zusteht, wenn dies im Interesse des betroffenen Kindes liegt.
Der Autor Dr. Jörn Heinemann ist Notar in Neumarkt i.d.Opf..
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Jörn Heinemann, EGMR-Urteil zum Umgangsrecht: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4307 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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