Nach der erneuten Verurteilung Deutschlands durch den EGMR wegen Verstoßes gegen den Fair-Trial-Grundsatz mahnen Anwaltsverbände und Richterorganisationen Gesetzesänderungen an. Anstiftungen durch V-Leute müssten ein Verfahrenshindernis sein.
Der Grund: Das Landgericht Berlin und später auch der Bundesgerichtshof (BGH) hatten zwei Männer wegen Drogenhandels strafrechtlich verurteilt, obwohl sie durch vom Staat eingesetzte V-Leute rechtsstaatswidrig zu den Taten provoziert worden waren. Weil sie die Taten nicht begangen hätten, wenn sie hierzu nicht von V-Leuten verleitet worden wären, hatten die Instanzgerichte ihre Strafen gemildert. Ein Verfahrenshindernis, das zur Einstellung geführt hätte, hatten die Gerichte aber nicht angenommen. Auch das BVerfG segnete die Berücksichtigung der überzogenen Tatprovokation im Rahmen der Strafzumessung letztlich ab.
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), der Deutsche Anwaltverein (DAV) und der Republikanische Anwältinnen und Anwälteverein (RAV) fordern nun Klarstellung im Gesetz: Rechtsstaatswidrige Tatprovokationen sollten von den Gerichten nicht mehr ausschließlich über die Strafzumessung, sondern als Verfahrenshindernis berücksichtigt werden.
Verfahrenshindernis statt weniger Strafe
Nicht gelten lassen wollen die Anwaltsverbände insbesondere den immer wieder eingewandten Hinweis, der BGH habe 2015 bereits einen Rechtsprechungswandel in Richtung einer Verfahrenseinstellung bei derartigen Fällen vollzogen.
Der BGH hatte 2015 erstmals die prozessualen Folgen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation deutlich konkretisiert und dabei statt der bisher von den Strafgerichten praktizierten Strafzumessungslösung erstmals ein Strafverfahrenshindernis angenommen und ein Verfahren eingestellt (Urt. v. 10.06.2015, Az. 2 StR 97/14). Auch ein Sprecher des BMJV verwies gegenüber LTO auf diese Entscheidung und stellte fest, dass der BGH ja nun "auch davon ausgeht, dass eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation zu einem Verfahrenshindernis führen kann".
Unterdessen halten Vertreter von Anwaltsorganisationen das BGH-Urteil von 2015 für alles andere als aussagekräftig: "Die Entscheidung des 2. Senats wird von anderen Senaten in ihrer Konsequenz offenkundig so nicht geteilt. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, seine Bürger vor Verleitung zu Straftaten durch staatlich bezahlte Milieupersonen durch entsprechende gesetzliche Verbote zu schützen“, sagte Stefan Conen vom Ausschuss Strafrecht des DAV, der die Ehefrau des zwischenzeitlich verstorbenen Verurteilten vor dem EGMR vertrat. Conen verwies gegenüber LTO auf spätere Strafurteile des BGH, in denen der Kurs des 2.Senats von 2015 nicht fortgesetzt worden sei (Az. 1 StR 128/15 v. 19.05.2015; 5 StR 650/17 v. 04.07.2018) "Tatprovokationen sollten ebenso verboten werden wie die 'Erfolgsprämien' für V-Leute, die den staatlichen Anreiz hierzu schaffen", forderte Conen.
BRAK: Staat darf sich nicht Kriminellen gemein machen
Ähnlich wie der DAV sieht es auch die BRAK. Ihr StPO-Ausschussvorsitzender, Prof. Dr. Christoph Knauer, fordert vom Gesetzgeber ebenfalls klare Kante: "Die erneute Verurteilung durch den EGMR belegt den gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Der Gesetzgeber sollte in Fällen rechtswidriger Tatprovokation zwingend ein Verfahrenshindernis vorsehen. Für eine Lösung auf Ebene der Strafzumessung ist in solchen Fällen kein Raum. Wenn der Staat rechtsstaatswidrig eine Tat veranlasst, verliert er seinen Strafanspruch, sonst macht er sich mit Kriminellen gemein", so Knauer im Gespräch mit LTO.
Der BRAK-Strafrechtsexperte hält den Verweis auf das BGH-Urteil von 2015 ebenfalls nur für "begrenzt hilfreich": "Dass die Entscheidung zum erhofften Rechtsprechungswandel führt, ist angesichts der erkennbaren anderen Haltung weiterer Strafsenate zweifelhaft", sagte er.
Auch der Vertreter des Republikanischen RAV, Prof. Dr. Helmut Pollähne, hält nach der erneuten Verurteilung durch den EGMR den Zeitpunkt für ein Tätigwerden des Gesetzgebers für gekommen. Der Einsatz staatlicher Tatprovokateure sei eines Rechtsstaats prinzipiell unwürdig, so Pollähne. "Wenn sich deutsche Gerichte bis hinauf zum BVerfG weiterhin als renitent erweisen, was die Beachtung der EMRK und der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR betrifft, so ist wohl der Gesetzgeber gefragt – insoweit steht Deutschland auch dem Europarat gegenüber in der Pflicht." Pollähne verwies auf das EGMR-Urteil von 2014, in dem das Gericht Deutschland zum ersten Mal verurteilt hatte. In dieser Entscheidung habe das Gericht unmissverständlich klargestellt, dass niemand für eine Tat bestraft werden dürfe, zu der staatliche Stellen angestiftet haben – auch nicht milder.
Auch die Neue Richtervereinigung (NRV) stellte gegenüber LTO klar: "Die neue Entscheidung des EGMR weist erneut auf den dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf für diesen Fragenkomplex hin."
BMJV prüft Urteil des EGMR
Ob das Bundesjustizministerium (BMJV) nun das zweite Urteil gegen Deutschland zum Anlass nehmen wird, dem Drängen vor allem der Anwälte nachzugeben und eine gesetzliche Regelung vorzulegen, ist weiterhin offen. Im Februar 2020 hat das Ministerium ein umfangreiches, vom Deutschen Richterbund ausgearbeitetes Gutachten vorgelegt.
Ein Sprecher des BMJV verwies auf LTO-Anfrage auf dieses Gutachten und teilte mit, dass aktuell noch geprüft werde, „ob und gegebenenfalls in welchem Umfang unter Beachtung der Implikationen des Verfassungsrechts, des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts gesetzgeberischer Handlungsbedarf für spezialgesetzliche Regelungen zum strafprozessualen Einsatz von V-Personen und insbesondere auch der Tatprovokation besteht“. Bei dieser Prüfung werde auch das Urteil des EGMR zu berücksichtigen sein, so der BMJV-Sprecher.
Rechtsstaatswidrige Tatprovokation durch V-Leute: . In: Legal Tribune Online, 19.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43145 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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