Weil die Türkei einen Verfassungsrichter inhaftiert hat, wurde sie nun vom EGMR verurteilt: Der Ausnahmezustand nach dem Putschversuch sei kein Freifahrtschein gewesen. Für den Ex-Richter dürfte die Entscheidung allerdings zu spät kommen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall eines inhaftierten Ex-Verfassungsrichters die Türkei wegen der Verletzung von Menschenrechten verurteilt (Urt. v. 16.04.2019, Beschw.-Nr. 12778/17). Der türkische Staat muss dem Mann nun 10.000 Euro Entschädigung zahlen.
Dass die türkischen Behörden den damaligen Verfassungsrichter Alparslan Altan am 16. Juli 2016, also bereits am Tag nach der Putschnacht, in Untersuchungshaft genommen haben, verstoße gegen das Recht auf Freiheit nach Art. 5 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Die Kammerentscheidung aus Straßburg ist ein weiterer Erfolg für türkische Staatsbürger, die nach dem Putschversuch verhaftet wurden. Eine erste EGMR-Entscheidung aus März 2018 verurteilte die Türkei wegen der Festnahme von zwei Journalisten.
Nach Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen und der Vereinten Nationen wurden seit dem Putschversuch rund 100.000 Menschen festgenommen und etwa 50.000 dauerhaft inhaftiert - darunter auch zahlreiche Journalisten, Rechtsanwälte und Richter.
Verfassungsrichter als Terrorist verurteilt
Dem Ex-Verfassungsrichter Altan wirft die türkische Regierung vor, Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein, die sie für den Putschversuch verantwortlich macht und als Terrororganisation einstuft. Der umstrittene türkische Prediger Fetullah Gülen lebt seit 1999 im Exil in den USA. Die Türkei wirft seinen Anhängern vor, auch die Justiz infiltriert zu haben. Erdogan und Gülen waren einst politische Weggefährten.
Nach der Putschnacht 2016 rief die Regierung den Ausnahmezustand aus und verhaftete rund 3.000 Richter und Staatsanwälte, darunter auch zahlreiche Richter an höchsten Gerichten des Landes. Nachdem Altan in Polizeigewahrsam kam, ordnete der Staat am 20. Juli 2016 gegen ihn eine Untersuchungshaft an. Am 4. August beschloss das Plenum des türkischen Verfassungsgerichts, Altan von seinem Posten zu entfernen. Das Richtergremium habe aufgrund von Informationen aus den sozialen Medien und nach einer "sich über die Zeit herausbildenden Auffassung" entschieden, dass Altan seinen Richterdienst nicht länger ausüben könne.
Er scheiterte auch mit einer Beschwerde gegen seine Haft beim Verfassungsgericht Anfang 2018. Ein Strafgericht verurteilte ihn schließlich am 6. März 2019 zu elf Jahren und drei Monaten Gefängnisstrafe wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation.
Auf frischer Tat ertappt?
Das türkische Verfassungsgerichtsgesetz (Gesetz Nr. 6216) bewahrt die Mitglieder des Gerichts zwar nicht vor Strafverfolgung, es sieht aber qualifizierte Verfahrensregeln vor, die das höchste Gericht vor einer Einmischung aus der Exekutive schützen sollen. Zunächst muss etwa das Gremium selbst die Immunität der Richter aufheben, erst dann können sich eine Strafverfolgung und ggf. auch eine Untersuchungshaft anschließen.
Das für Altan zuständige Strafgericht hatte aber eine Ausnahme von den strengeren Schutzregeln für die Strafverfolgung von Verfassungsrichtern gesehen. Nach der Figur des "in flagrante delicto", also auf frischer Tat ertappt, entfallen die besonderen Schutzgarantien. Für den Richter Altan sollen nach Auffassung des Strafgerichts also die ganz gewöhnlichen Vorschriften der Strafprozessordnung Anwendung gefunden haben.
Die Richter am EGMR halten diese Ausweitung für "problematisch mit Blick auf das Prinzip der Rechtssicherheit" - und im Übrigen für "offensichtlich unangemessen".
Erst verhaftet, dann Beweise gesammelt
Außerdem rügt die Kammer auch, dass die Untersuchungshaft angeordnet wurde, obwohl es an einem ausreichenden Verdacht gemangelt habe. Das türkische Verfassungsgericht habe sich im Beschwerverfahren - wie auch das Strafgericht - auf die Aussagen von zwei anonymen Zeugen, Aussagen eines früheren Kollegen von Altan am Verfassungsgericht sowie Nachrichten zwischen dritten Personen, die sich über den Messenger-Dienst "ByLock" ausgetauscht hätten, Telefongespräche und Reiserouten gestützt. "ByLock" steht aus Sicht der türkischen Regierung im Verdacht, das Standard-Kommunikationsmittel der Gülen-Anhänger zu sein.
Die Straßburger Richter betonen, dass das Material erst nach der Verhaftung durch die Behörden gesammelt wurde. Vor allem sei Altan nicht verdächtigt worden, in dem Putschversuch vom 15./16. Juli involviert gewesen zu sein.
Die Kammer berücksichtigt zwar auch die außergewöhnliche Situation nach dem Putschversuch in der Türkei. Dennoch stellen die Richter fest: "Das bedeutet jedoch nicht, dass die Behörden eine carte blanche hatten, im Ausnahmezustand jemanden zu verhaften ohne belastbare Beweise."
Kommt das Urteil zu spät?
Die Entscheidung der Kammer erging mit sechs zu eins Stimmen. Der Richter Harun Mert aus der Türkei hat eine abweichende Meinung abgegeben. Mert wurde als sog. Ad-hoc-Richter beteiligt, da die Amtszeit der türkischen Richterin am EGMR Işıl Karakaş bereits endete, aber noch keine Nachfolgerin gefunden werden konnte. Nun hat der Europarat aber eine ordentliche Richterin gewählt, die türkische Rechtswissenschaftlerin Dr. Saadet Yüksel.
Nach einem Kammerurteil können beide Seiten - Beschwerdeführer und Regierung - innerhalb von drei Monaten beantragen, dass sich noch einmal die Große Kammer mit dem Fall beschäftigt (Art. 43 Abs. 1 EMRK). Zuletzt hatte die Große Kammer abgelehnt, sich mit dem Fall zweier türkischer Journalisten beschäftigen.
Für den immer noch inhaftierten Ex-Verfassungsrichter Altan dürfte die EGMR-Entscheidung zwar einen Erfolg bedeuten, an seiner Situation wird sie aber wohl nicht viel ändern. Das Urteil des EGMR betrifft nur die Unrechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft. Mittlerweile, so dürfte die Türkei argumentieren, hat man ihn aus der Untersuchungshaft "entlassen" – er verbüßt nun seine reguläre Gefängnisstrafe.
EGMR verurteilt Türkei: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34949 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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