Die Rolle des Rechts bei der Internetnutzung ist eher im Einzelfall ein Aufreger - wenn Facebook seine Nutzungsbedingungen ändert oder Google Hausbesitzer auf einen aktiven Widerspruch verweist. Prof. Dr. Dirk Heckmann fordert eine politische, gesellschaftliche und nicht zuletzt juristische Richtungsdebatte zu Privatsphäre, Persönlichkeitsrecht und dem Schutz von "Minderheiten" im Internet.
Responsive Demokratie oder Nachhilfe für Abgeordnete? Die Reaktionen auf die im März durch den Bundestag eingerichtete Enquete Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" waren vielfältig, in der Tendenz aber eher kritisch bis negativ: die falschen Personen (sowohl unter den Abgeordneten als auch hinsichtlich der Sachverständigen), zu wenig Sachverstand (Internetkompetenz). Und immer wieder war auch zu lesen: zu viele Juristen.
Sind Juristen im Internet wirklich Spielverderber? Haben sie nur Regulierung im Sinn, Verbote und Verfolgung?
Das wirft die Frage auf, welche Rolle das Recht bei der Nutzung des Internets spielt oder spielen soll, warum man das Recht - und den einen oder anderen Juristen - überhaupt braucht.
Neben der Ordnungs- und der Befriedungsfunktion des Rechts drängt sich seine Schutzfunktion auf. Gerade weil das Internet gerne als Musterbeispiel für Selbstorganisation, Autonomie und institutionelle Freiheit angesehen wird, könnten Regeln und Instrumente des Rechts hier dem Zweck dienen, jenen Internetnutzern zur Seite zu stehen, die sich selbst weniger gut schützen können, vielleicht gar als "Verlierer" aus der globalen Digitalisierung hervorgehen.
Man ist geneigt, insoweit von "Minderheitenschutz" zu sprechen, obwohl es eher eine "gefühlte" Minderheit ist, die das betrifft. Denn legt man die Erkenntnisse der jüngsten D21-Studie zugrunde, ist es eine numerische Mehrheit in der (deutschen) Bevölkerung, die - obwohl im Web 1.0 und Web 2.0 unterwegs - noch nicht in der digitalen Gesellschaft angekommen ist.
Web 2.0: Abschied vom klassischen Rechtsschutz
Doch genau dieser Schutz fällt nicht leicht, bewegen wir uns doch in einem "digitalen Dilemma": Nicht wenige der als innovativ, nützlich und wünschenswert eingestuften Funktionen und Dienste des Web 2.0 würden ad absurdum geführt, wenn man ihnen gegenüber Rechtsschutz (im klassischen Sinne) gewähren würde. Das betrifft etwa Google Street View, Facebook, YouTube oder die Bewertungsportale.
Solche Angebote bedienen einen erheblichen Bedarf der Internetnutzer (oder erzeugen diesen jedenfalls) und gehen einher mit Innovationen bei Hardware und Software (Navigationstools, iPhone Apps, YouTube-button bei Digitalkameras etc.), die kaum rechtliche Zweifel aufkommen lassen, obwohl sie keineswegs konfliktfrei sind.
So kann formaljuristisch die Rechtsauffassung vertreten werden, dass Google bei Street View die allermeisten Passanten und Anlieger um Erlaubnis fragen müsste, bevor diese oder ihre privaten Häuser abgelichtet werden ("opt-in"), anstatt sie auf den Widerspruchsweg zu verweisen ("opt-out").
Aber wäre dieses Projekt dann noch durchführbar? Massendienste leben von Massenanwendungen und vertragen sich kaum mit Einzelinteressen. Ähnlich verhält es sich im Prinzip aus urheberrechtlicher Sicht bei Google Books.
Inwieweit soll der einzelne "vor sich selbst" geschützt werden?
Ein weiteres aktuelles Beispiel bietet Facebook, pars pro toto für den Datenschutz in sozialen Netzwerken. Würde man hier etwa die Defaulteinstellungen der Sichtbarkeit der Profile, Fotoalben und Pinnwände auf "benutzerdefiniert: nur ich" setzen, um den Nutzer dann selbst zur aktiven Gestaltung seiner Privatsphäre und Sozialsphäre aufzurufen, wäre der Netzwerkcharakter solcher Angebote, die auf Informationsaustausch ausgerichtet sind, ein Stück weit in Frage gestellt. Dabei würden solche Einstellungen dem Gedanken der informationellen "Selbst"bestimmung und informierten Einwilligung Rechnung tragen.
Das Dilemma liegt auf der Hand: Inwieweit soll der einzelne "vor sich selbst", vor der eigenen "Sorglosigkeit" geschützt werden? Zumindest solange die Privatsphäreeinstellungen nicht zwischen (buchstäblich) "virtuellen" Freunden und "echten" Freunden unterscheiden, was wiederum neue Konflikte heraufbeschwören würde.
Noch deutlicher wird das digitale Dilemma beim Hochladen von Fotos und Videos in Internetportalen sichtbar, auf denen nicht selten Personen zu finden sind, die keineswegs in diese Preisgabe privater Informationen eingewilligt haben. Der Verweis auf Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche hilft kaum weiter, werden diese doch eher selten im näheren sozialen Umfeld geltend gemacht.
Hinzu kommt, dass die Persönlichkeitsverletzung durch die Löschung nicht restlos beseitigt werden kann. Auch hier schafft eine auf Massenanwendung zielende faszinierende Technologie Fakten, mit denen sich herkömmliche Rechtspositionen nur schwer vereinbaren lassen.
Richtungsdebatte statt Resignation
Gibt es Wege aus diesem Dilemma? Nur auf den ersten Blick gelänge dies bereits mit einer Änderung des Datenschutzrechts, des Urheberrechts oder des Ehrenschutzes im Internet. Denn eine "einfach nachvollziehende" Anpassung an die normative Kraft des Faktischen käme einer Resignation des Rechts gleich und würde nur zu weiterem "Rechtsbruch" (in einer Art "digitalen Ungehorsams") ermuntern.
Umgekehrt hilft es auch nicht weiter, den durch die IT-Entwicklung forcierten sozialen (Anschauungs-)Wandel zu ignorieren. Vielmehr bedarf es einer (längst überfälligen) politischen und gesellschaftlichen Richtungsdebatte, die den Stellenwert von Privatsphäre, Persönlichkeitsrecht und "Minderheitenschutz" im Internet – auch jenseits tagesaktueller Streitfälle – thematisiert und zu einer gerechten Abwägung der Mehrheits- und Minderheitsinteressen beiträgt.
In welche Richtung entwickelt sich das Internet als "Plug and Play"-Umgebung und Schmelztiegel wirtschaftlicher, persönlicher und politischer Interessen? Wie sieht der digitale Alltag vermutlich in fünf Jahren aus?
Hierfür bedarf es dringend auch der Entwicklung eines Leitbildes jenseits romantischer Vorstellungen eines "völlig freien" oder "völlig kontrollierten" Netzes. Freiheit und Sicherheit sind elementare Eckpfeiler einer Netzpolitik, ihre einseitige Propagierung hat in der Vergangenheit aber eher Fronten geschaffen als Konsens gestiftet.
Vertrauen statt Verbote
Stattdessen könnte sich das Leitbild an Kategorien wie "Vertrauen" und "Fairness" orientieren. Vertrauensbildende Maßnahmen können mehr Akzeptanz stiften als vollstreckbare Gebote. Gleiches gilt für einen fairen, rücksichtsvollen Umgang mit den Interessen Dritter (im Sinne von John Rawls’ Theory of Justice oder auch in Anlehnung an das "Gebot der Rücksichtnahme" im Sinne eines virtuellen Nachbarschutzes).
Der Staat hat insoweit eine Vorbildfunktion, der er in den vergangenen Jahren (Online-Durchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, Internetsperren) nicht gerecht geworden ist. Mit der Enquete Kommission erhält er eine neue Chance. Er sollte sie nutzen, trotz – nein, auch wegen des dort vereinten juristischen Sachverstandes.
Prof. Dr. Dirk Heckmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht sowie stellvertretender Leiter des Instituts für IT-Sicherheit und Sicherheitsrecht an der Universität Passau und u.a. Mitglied der Arbeitsgruppe E-Justice auf dem Nationalen IT-Gipfel der Bundesregierung.
Dirk Heckmann, Digitales Dilemma: . In: Legal Tribune Online, 27.04.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/385 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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