Seit Mitte Februar soll der Digital Services Act schädliche Online-Aktivitäten und Desinformation auf Tiktok, Instagram & Co. verhindern. Warum die Persönlichkeitsrechte trotzdem in Gefahr bleiben, erläutert Lucas Brost.
"A new sheriff is in town." Mit diesen markigen Worten kündigte der ehemalige EU-Kommissar Thierry Breton im Januar 2022 auf X den Digital Services Act (DSA) an. In einem Kurzvideo, dem ein alter Clint-Eastwood-Western zur Vorlage dient, greift der neue Sheriff in Zeitlupe zu seinem Revolver. Die kriminellen Banditen – mit Desinformation und Hassrede untertitelt –, zittern schon beim Anblick des neuen Gesetzeshüters. Sie zittern vor dem DSA.
Seit Februar 2023 gilt der DSA für reichweitenstarke Plattformen wie Facebook und Amazon, seit Februar 2024 nun auch für kleinere Unternehmen. Er regelt die Pflichten von Online-Plattformen und digitalen Diensten in der EU, indem er klare Anforderungen an die Moderation von Inhalten, den Schutz der Nutzerrechte und den Umgang mit illegalen Inhalten im Internet formuliert. Zudem nimmt der DSA Plattformen vermehrt in die Verantwortung und verpflichtet sie, Berichte über ihre Maßnahmen und Algorithmen offenzulegen. Zum 14. Mai 2024 ist das deutsche Digitale-Dienste-Gesetz in Kraft getreten, um die nationalen Vorschriften an die europarechtlichen Vorgaben des DSA anzupassen.
Die Praxis zeigt jedoch, dass der "neue Sheriff" bereits falsch ansetzt. Der Gesetzgeber hat nicht hinreichend berücksichtigt, dass aus Sicht der Betroffenen Zeit die entscheidende Komponente ist. Ein Opfer rechtswidriger Berichterstattung benötigt zudem Rechtsicherheit und muss Druck auf die Dienste ausüben können. Und genau an diesen Herausforderungen scheitert der DSA, wie der Fall von Martin L. (Name geändert) belegt, an dem der Autor beteiligt war.
Ein rechtswidriger Facebook-Beitrag
Martin L. hat von der europaweiten Novelle gelesen, als er sich im Dezember 2023 an Meta wendet. Martin nutzt Metas Plattform Facebook regelmäßig, um in einer internationalen Community zu kommunizieren.
Es ist kurz vor Weihnachten 2023 als auf Facebook ein Beitrag publiziert wird, der ihn in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Das teilt er Facebook-Betreiber Meta über das angebotene Formular auch mit. Doch Meta wird den Beitrag nicht löschen, teilt das Unternehmen nach wenigen Tagen per E-Mail mit. Eine Begründung, die sich mit Martins Einwänden inhaltlich auseinandersetzt, erhält er nicht. Er hakt bei Meta nach, um die genauen Gründe zu erfahren. Keine Antwort.
Landgericht untersagt Veröffentlichung – Beitrag bleibt online
Zwei Wochen nach Erscheinen des Beitrages wendet sich Martin an den Autor. Wir beantragen in Martins Namen eine einstweilige Verfügung, die das Landgericht innerhalb weniger Tage erlässt: Das Gericht verurteilt Meta zur Unterlassung und Kostentragung. Erleichterung bei Martin. Wird der Beitrag jetzt doch verschwinden?
Martin weist Meta per E-Mail auf den Beschluss hin und bittet um Löschung. Die einstweilige Verfügung ist streng genommen noch nicht wirksam, da sie zunächst zugestellt werden muss. Da Meta in Irland sitzt, dauert die Zustellung in der Regel einige Wochen. Meta weigert sich zudem regelmäßig, die auf Deutsch verfasste einstweilige Verfügung zu akzeptieren und benennt keine Kanzlei in Deutschland, was zu weiteren Verzögerungen führen kann.
Auf den Hinweis per Mail reagiert Meta nach zwölf Tagen und teilt mit, dass in Deutschland der Zugriff auf den gemeldeten Inhalt eingeschränkt werde. Der Beitrag war bis zur Löschung acht Wochen online. Die internationale Community kann ihn weiterhin lesen. Denn der Zugriff wird lediglich in Deutschland beschränkt.
Martin fragt nach, warum der Beitrag nur in Deutschland eingeschränkt werde. Eine Antwort erhält er von Meta wieder nicht.
Autor erfährt von Sperre – und veröffentlicht Beitrag erneut
Der Autor des verbotenen Beitrages erfährt von der Sperre in Deutschland – und publiziert ihn leicht modifiziert einfach erneut. Er ist nun auch wieder in Deutschland abrufbar. Martin ist ratlos. Er bittet um erneute anwaltliche Kontaktaufnahme zu Meta. Meta ist verpflichtet, auch sinngleiche Beiträge nicht zu veröffentlichen, wenn es Kenntnis von den verletzenden Inhalten hat (OLG Frankfurt, Urt. v. 25.01.2024, Az. 16 U 65/22). Doch nichts passiert.
Der zweite Beitrag ist zwei weitere Monate online. Martin muss auch die Finanzen im Blick behalten. Zwar wurde Meta verpflichtet, die Kosten zu tragen. Eine Zahlung ist drei Monate nach Erlass der Verfügung jedoch nicht erfolgt. Kostenantrag und -beschluss müssen ebenso wie die einstweilige Verfügung Meta erneut – im Ausland – zugestellt werden. Da Meta den nahezu identischen Beitrag auch mehr als sechs Monate (!) nach dem ersten Beitrag nicht gelöscht hat, hat Martin nun ein Ordnungsgeld beantragt. Der zuständige Richter ist aber erst einmal im Sommerurlaub.
Sollte ein Ordnungsgeld ausgesprochen werden, fließt es in die Staatskasse. Martin erhält keinen Cent – aber wenigstens der Beitrag sollte dann verschwinden.
Martins Fall klingt wie ein schlechtes Märchen. Leider ist es die tägliche Realität im digitalen Wilden Westen.
Der alte Sheriff in Deutschland heißt NetzDG
Die Notwenigkeit schneller Entscheidungen erkannte der deutsche Gesetzgeber, als er im Jahr 2017 das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) beschloss, welches auch als Vorbild des DSA gilt. Das inzwischen überholte Gesetz sah vor, dass offensichtlich strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu löschen sind. Sonstige strafbare Inhalte waren in der Regel innerhalb von sieben Tagen zu löschen. Bis zur Einführung des Digitale-Dienste-Gesetzes, das das NetzDG nahezu vollständig aufgehoben hat, konnten Plattformen die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit von Inhalten zudem an eine staatlich anerkannte Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung übertragen. 2020 bis 2023 hat die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) diese Aufgabe übernommen.
Der Nachteil des NetzDG bestand darin, dass es lediglich für Katalogstraftaten wie beispielweise Volkverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch, StGB) oder Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) Anwendung fand (§ 1 Abs. 3 NetzDG a.F.). Die betroffenen Dienste konnten sich regelmäßig auf den Standpunkt stellen, dass das NetzDG keine Anwendung finde, wenn die unbestimmten Tatbestandsvoraussetzungen der Katalogtaten nicht erfüllt zu sein schienen.
In diesem Punkt bietet der DSA eine Verbesserung, denn der sachliche Anwendungsbereich ist weiter: Unter rechtswidrige Inhalte fallen nach Art. 3 lit. h DSA "alle Informationen, die als solche oder durch ihre Bezugnahme auf eine Tätigkeit […] nicht im Einklang mit dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats stehen". Das gilt "ungeachtet des genauen Gegenstands oder der Art der betreffenden Rechtsvorschriften".
Der neue Sheriff zieht zu langsam
Der bedeutende Nachteil der neuen Regelung besteht allerdings darin, dass die Frist zur Reaktion durch den Plattformbetreiber aufgeweicht wurde. Statt innerhalb eines Tages oder einer Woche reagieren zu müssen, genügt nach Art. 16 Abs. 6 DSA eine "zeitnahe" Bearbeitung der Beschwerde. Nur Meldungen von vertrauenswürdigen Hinweisgebern sind "unverzüglich" zu bearbeiten (Art. 22 Abs. 1 DSA). In der Praxis wird es damit zu deutlich längeren Verfahren kommen. Das Prozessrisiko bei unbestimmten Rechtsbegriffen wie "zeitnah" trägt stets der Anspruchsteller, also die Person, die Opfer von Hassrede und Desinformation geworden ist. Denn sie muss darlegen, dass die Voraussetzung erfüllt ist – andernfalls droht die Abweisung des Anspruchs.
Der zweite große Nachteil besteht darin, dass der europäische Gesetzgeber die Rechtsdurchsetzung nicht hinreichend geregelt hat. Die gerichtliche Anspruchsdurchsetzung dauert – wie Martins Beispiel zeigt – weiterhin viel zu lange.
Die neue Verordnung schreibt zwar die Möglichkeit fest, kostenlos eine außergerichtliche Streitbeilegungsstelle anzurufen. Darauf weist auch Meta in seinen Antwortschreiben hin. Die Bundesnetzagentur vermeldete am 12. August 2024, dass mit der User Rights GmbH mit Sitz in Berlin die erste außergerichtliche Streitbeilegungsstelle geschaffen wurde. Das Problem ist aber: Es dauert, bis eine solche Streitbeilegungsstelle zu Ergebnissen kommt. Und für Betroffene geht es meist um Stunden oder Tage. Die Entscheidungen sind zudem – so heißt es auf der Homepage der User Rights GmbH – "nicht unmittelbar bindend", sie ermöglichten aber eine Prognose, ob sich der Weg zum Gericht lohnt.
Der Weg zum Gericht im Wege des Eilverfahrens ist am Ende eines solchen Prozesses aber verstellt, wenn der Betroffene mit einem gerichtlichen Antrag zu lange gewartet hat. Eilverfahren sind nur innerhalb einer bestimmten Frist ab Kenntnis von dem Beitrag möglich. Die Frist ist gesetzlich nicht festgelegt, sondern bestimmt sich nach der Rechtsprechung des jeweiligen Oberlandesgerichts, die meisten Senate nehmen einen Monat an. Ein Klageverfahren dauert Monate, wenn nicht Jahre.
Aktuell können über die Schlichtungsstelle zudem nur Beschwerden von Instagram, Tiktok und LinkedIn eingereicht werden. In Martins Fall kann die Stelle nicht helfen, ebenso wenig gegen Suchmaschinen. Was also hilft Betroffenen tatsächlich?
DSA braucht Nachbesserung
Begrüßenswert ist zunächst der Mut des europäischen Gesetzgebers, europaweit gültige Vorschriften für Vermittlungsdienste zu erstellen. Auch das politische Signal, dass sich amerikanische Plattformen europäischem Recht unterwerfen müssen, ist richtig und wichtig. Der DSA bedarf jedoch der Nachbesserung, wenn der Kampf gegen Desinformation und Hate Speech erfolgreich sein soll.
Beschwerden müssen innerhalb einer konkreten Frist bearbeitet werden. Der Mut des deutschen Gesetzgebers im NetzDG war richtig – die dort angegebenen Rahmendaten sollten auch für den DSA gelten. Es bedarf zudem einer umfassenden Zustellungsnorm. Alle Vermittlungsdienste, die ihre Dienste in der Union anbieten, müssen unabhängig von ihrem Sitz für jeden Mitgliedstaat einen Zustellungsbevollmächtigten benennen, bei welchem dann nach dem Vorbild des § 5 NetzDG auch und vor allem Zustellungen in Gerichtsverfahren erfolgen können. Nur auf diesem Weg ist die schnelle Durchsetzung von Ansprüchen sichergestellt.
Eine bessere Rechtsdurchsetzung hätte nicht etwa zur Folge, dass mehr Inhalte schneller entfernt werden (Overblocking). Es würde lediglich bedeuten, dass kritische Fälle schneller gerichtlichen Entscheidungen zugeführt werden könnten. Da das Äußerungsrecht komplexes Abwägungsrecht ist, sind die kritischen Fälle dort besser aufgehoben als bei Schlichtungsstellen.
In Martins Fall wäre in einem solchen Fall bereits die erste Reaktion schneller erfolgt. Bei einer Verweigerung von Meta hätte er innerhalb weniger Tage eine einstweilige Verfügung erwirken und zustellen können. Die Zahlung der Kosten hätte er ebenfalls schnell durchgesetzt. Stattdessen ist der Post, den ein deutsches Gericht im Eilverfahren verboten hat, knapp neun Monate nach der Erstveröffentlichung weiterhin online – in Deutschland in leicht modifizierter Form.
Dr. Lucas Brost ist Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht und Partner in der Medienkanzlei Brost Claßen.
Digital Services Act: . In: Legal Tribune Online, 07.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55576 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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