Medien sind eine Macht. Nicht zuletzt deshalb spricht man davon, dass wir in einer Mediengesellschaft leben. Und nicht umsonst werden sie als Vierte Gewalt im Staat apostrophiert. Der Einfluss, den die Medien inzwischen auf die Politik - und andere Bereiche der Gesellschaft - ausüben, ist offensichtlich. Aber können Medien und Öffentlichkeit auch Gerichte beeinflussen?
Auf keinen Fall, sagen unisono (fast) alle Richter. Richter lesen Zeitung, Richter sehen fern, aber sie würden dadurch nicht beeinflusst. Ist das wirklich so? Ganz glauben mag man es nicht. Nicht nur der gesunde Menschenverstand macht skeptisch gegenüber dieser richterlichen Selbsteinschätzung. Auch Erkenntnisse der modernen Kommunikations- und Medienforschung lassen daran zweifeln.
Der medienresistente Richter - Besichtigung eines Dogmas
Richter werden durch Medien und Öffentlichkeit nicht beeinflusst. Sie können souverän mit ihnen umgehen. So kurz und apodiktisch äußerte sich 1984 der Deutsche Richterbund, die Standesvertretung der deutschen Richter. Eine nähere Begründung gab er nicht. Er hielt sie wohl für unnötig. Selbstverständlichkeiten müssen nicht näher begründet werden.
Ähnlich eindeutig äußerte sich jüngst auf dem Anwaltstag in Aachen Ottmar Breidling, ein Richter mit viel Erfahrung in Prozessen, die im Fokus der Medien stehen. Er verfolge natürlich gründlich, was in den Medien über seine Prozesse berichtet werde. Das habe aber keine Auswirkungen auf sein Urteil. Mit dieser Ansicht dürfte er den Grundkonsens in der deutschen Richterschaft formuliert haben.
Vereinzelt gab es allerdings schon immer Stimmen aus der Richterschaft, die sich selbstkritischer mit dem Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Justiz auseinandergesetzt haben. Der frühere Bundesrichter Werner Sarstedt hat schon vor Jahrzehnten gesagt: „Natürlich stehen Richter unter dem Druck der öffentlichen Meinung. Und natürlich hat die öffentliche Meinung auf sie Einfluß“.
Verfassungsrecht und Wirklichkeit
Dass Richter unabhängig sein sollen, ist ein Ideal, das vom Rechtsstaat gefordert wird. Das hat tiefere Gründe: Nur unabhängige Richter können die Herrschaft des Rechts durchsetzen. Nur sie können den Drohungen, Manipulationen oder Verlockungen widerstehen, mit denen sie konfrontiert werden - und die ein richterliches Urteil zum ungerechten Willkürurteil machen könnten. Kein Wunder also, dass das Grundgesetz die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ausdrücklich garantiert. Art. 97 der Verfassung ist an Klarheit kaum zu überbieten: „ Die Richter sind unabhängig und nur den Gesetzen unterworfen“. Und damit sind nicht die Gesetze der Medienöffentlichkeit gemeint.
Wie jedes Ideal wird auch der völlig unabhängige Richter in der Wirklichkeit wohl nicht erreicht. Denn Unabhängigkeit ist nicht nur eine Frage der verfassungsrechtlichen Garantie. Mindestens ebenso wichtig ist die persönliche Souveränität und - muss man im Zeitalter der Medien ergänzen - die eigene Medienkompetenz. Um es klar zu sagen: Wenn das Grundgesetz die rechtliche Unabhängigkeit der Gerichte garantiert, heißt das nicht zwingend, dass alle Richter in der Wirklichkeit des Gerichtssaals auch tatsächlich unabhängig sind.
Die Macht der öffentlichen Meinung
Wie wichtig die öffentliche Meinung ist, hat in Deutschland Elisabeth Noelle-Neumann immer wieder deutlich gemacht. In ihrer bahnbrechenden Untersuchung „Die Schweigespirale“ hat sie 1980 die öffentliche Meinung als soziale Haut charakterisiert. Weil der Mensch ein soziales Wesen ist, kann ihm nicht gleichgültig sein, was andere über ihn denken. Ob man es will oder nicht: Menschen neigen dazu, das öffentliche Meinungsklima wahrzunehmen. Und mehr noch: Sie richten ihr Verhalten - mehr oder auch weniger stark - danach aus. Hier liegt eine sozialpsychologische Ursache dafür, warum Mitläufertum einfach ist - und Widerstand so schwer.
Vor diesem Hintergrund ist es unwahrscheinlich, dass Richter die öffentliche Meinung grundsätzlich ignorieren. Urteile zu sprechen, die gegen die Ansicht der Öffentlichkeit stehen, ist nicht unmöglich. Dafür gibt es viele Beispiele. Aber es ist so schwer, dass kaum zu glauben ist, dass Richter das immer souverän schaffen.
Medien und Justiz - Was sagt die Empirie?
Eine aktuelle Untersuchung des Kommunikationwissenschaftlers Hans Mathias Kepplinger und Thomas Zerback kommt zu Ergebnissen, die dem Selbstbild der Richterschaft widersprechen. Richter verfolgen danach die Berichterstattung in den Medien über „ihre“ Fälle in der Regel intensiv. Wie die Öffentlichkeit ihr Verhalten im Prozess beurteilt, ist für viele Richter wichtig.
Das bleibt nicht ohne Folgen: Etwa ein Viertel der befragten Richter räumt ein, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Strafprozessen Auswirkungen auf das Strafmaß hat. Ältere empirische Studien zur Rechtsprechung in den USA kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Auch wenn die Forschung hier noch am Anfang steht: Dass Richter von Medien grundsätzlich nicht beeinflusst werden, wird sich so apodiktisch kaum noch behaupten lassen.
Richter als Prominente
In jüngster Zeit betonen Richter immer öfter, dass sie sich bei ihrem Urteil von den Erwartungen der Öffentlichkeit nicht haben beeinflussen lassen. Ob das tatsächlich so ist, mag dahinstehen. In jedem Fall zeigt das aber, dass sie den Erwartungsdruck der Öffentlichkeit spüren, der auf ihnen als Person lastet. Sie werden immer öfter – jedenfalls in spektakulären Prozessen – zu prominenten Gesichtern und Personen auf der öffentlichen Bühne. Und das hat fatale Folgen. Das Medieninteresse wird noch größer - und der Druck der Öffentlichkeit steigt weiter.
Die Macht der Medien - Bewusstmachen - oder Verdrängen?
Dass Richter durch Medien beeinflusst werden, ist menschliche Normalität. Keiner kann sich der Macht der Medien entziehen und sich völlig von der öffentlichen Meinung emanzipieren. Wichtig ist aber, dass sich die Betroffenen dieser Erkenntnis stellen und sie nicht leugnen oder verdrängen. Denn nur auf Beeinflussungen, die bewusst wahrgenommen werden, lässt sich – mehr oder weniger – souverän reagieren. Wer die Macht der Medien leugnet oder verdrängt, wird gesteuert und sogar manipuliert – und merkt es nicht.
Prof. Dr. jur. habil. Dr. rer.pol. Volker Boehme-Neßler lehrt u.a. Medienrecht in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: BilderRecht. Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. Springer Verlag Heidelberg, und: Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung. Nomos Verlag Baden-Baden.
Die im Text erwähnte Studie von Hans Mathias Kepplinger und Thomas Zerback erschien in: Publizistik 2009, Heft 2.
Veranstaltungstipp: Professionelle Kommunikation für Juristen
Volker Boehme-Neßler, Die Öffentlichkeit als Richter?: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/931 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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