Das BVerwG verhandelt am Dienstag über eine Neubewertung des Begriffs "alleinerziehend". Gut möglich, dass künftig mehr Mütter oder Väter Unterhaltsvorschuss für ihre Kinder bekommen könnten. Die Entscheidung wird mit Spannung erwartet.
Eigentlich klingt die Rechtslage beim Unterhaltsvorschuss unkompliziert. Anspruch darauf haben Kinder, die bei einem alleinerziehenden Elternteil leben und keinen oder keinen regelmäßigen Unterhalt von dem anderen Elternteil erhalten. Für Kinder bis Fünf gibt es maximal 187 Euro, für Kinder bis 17 Jahre bis zu 338 Euro. Auf das Einkommen des alleinerziehenden Elternteils kommt es dabei nicht an. Auch eine gerichtliche Entscheidung über den Unterhalt gegen den anderen Elternteil ist nicht erforderlich. Der wird, falls dieser Elternteil ganz oder teilweise leistungsfähig ist, später vom Staat in Höhe des gezahlten Unterhaltsvorschusses in Anspruch genommen.
Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht: Immer wieder für Streit sorgt in der Praxis die Regelung des § 1 Abs.1 Nr. 2 Unterhaltsvorschussgesetz (UVG). Danach haben nur Kinder Anspruch auf den Vorschuss, die "bei einem Elternteil" betreut werden. Was aber gilt, wenn das Kind zwar seltener, aber doch hin und wieder ein paar Tage beim anderen Elternteil lebt und dort selbstverständlich auch gehegt und gepflegt wird? Kann der eine Elternteil dann keinen Unterhaltsvorschuss beanspruchen, obwohl er eigentlich die Hauptlast der Erziehung trägt?
Eine solche Konstellation liegt nunmehr dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zur Entscheidung vor (Az. 5 C 9.22). Verhandelt wird am Dienstag, es wird eine Grundsatzentscheidung zum Merkmal "alleinerziehend" erwartet.
Geklagt hat die Mutter von Zwillingstöchtern. Sie beantragte beim zuständigen Jugendamt in Höxter die Bewilligung von Unterhaltsvorschussleistungen für beide Kinder, weil der von ihr getrennt lebende Kindesvater keinen Unterhalt leistete.
Ist die faktische Alltagssorge maßgeblich?
Das Amt lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin sei nicht alleinerziehend, weil sich die Kinder vierzehntägig von Mittwoch bis Montag beim Vater aufhielten. Dieser wirke an der Erziehung der Kinder mit und sein Anteil an den Betreuungszeiten liege bei immerhin 36 Prozent.
Dagegen wandte die Mutter ein, dass es doch auch auf andere Aspekte als nur den zeitlichen ankomme: Zum Beispiel, welcher der Elternteile die sogenannte Alltagssorge wahrnehme und die elementaren Lebensbedürfnisse des Kindes nach Pflege, Verköstigung, Kleidung, ordnender Gestaltung des Tagesablaufs und ständig abrufbereiter emotionaler Zuwendung vorrangig befriedige oder sicherstelle. Die Argumentation überzeugte weder das Verwaltungsgericht Minden noch das Oberverwaltungsgericht in Münster.
Ob die Kindesmutter damit nun beim BVerwG durchdringt, ist offen. Immerhin kündigte das Gericht im Terminhinweis an, dass es "voraussichtlich" die in einem früheren Urteil (v. 11. 10. 2012, Az. 5 C 20.11) formulierte Grundsätze, unter welchen Voraussetzungen ein Kind im Sinne des UVG bei (nur) einem Elternteil lebt, wenn der andere Elternteil sich an der Kindesbetreuung beteiligt, konkretisieren werde. Und vielleicht auch ändert?
BVerwG-Urteil von 2012 und Richtlinien des BMFSFJ
Denn tatsächlich war die Konstellation, die der BVerwG-Entscheidung im Jahr 2012 zugrunde lag, eine andere: In dem Fall machte der Vater Unterhaltsvorschuss geltend, die Mutter des Kindes betreute dieses täglich anteilig mit. Das BVerwG verwehrte dem vermeintlich "alleinerziehenden" Vater den Vorschuss. Begründung: Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung erfordere es, dass der alleinstehende leibliche Elternteil wegen des Ausfalls des anderen Elternteils die doppelte Belastung mit Erziehung und Unterhaltsgewährung in seiner Person zu tragen habe.
Werde das Kind hingegen weiterhin auch durch den anderen Elternteil in einer Weise betreut, die eine wesentliche Entlastung des den Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes zur Folge habe, sei das Merkmal zu verneinen, so das Gericht. Allerdings komme es am Ende immer auf die Umstände des Einzelfalls an.
Auf die Umstände des Einzelfalles wird es auch im vorliegenden Fall mit den Zwillingstöchtern ankommen. Eine Rolle spielten dürften dann auch die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aufgestellten Richtlinien zur Durchführung des UVG spielen. Die Richtlinien bestimmen die Praxis der Gewährung von Unterhaltsvorschuss seitens der Jugendämter. Und darin heißt es: "Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass bei einer Mitbetreuung von mehr als einem Drittel der Tage keine Alleinerziehung im Sinne des UVG vorliegt."
Doch ob diese Prozentangabe immer geeignet ist, über die Qualität und das wirkliche Ausmaß einer Kindeserziehung eine überzeugende Aussage zu treffen?
Alleinerziehenden-Verband hofft auf BVerwG
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter Bundesverband e.V. (VAMV) steht jedenfalls auf dem Standpunkt, dass immer auch eine qualitative Beurteilung der Betreuungsleistungen im Wege einer Einzelfallprüfung stattfinden muss, wenn der andere Elternteil – wie hier - mehr als ein Drittel der Zeit das Kind betreut. Der Verband kritisiert deshalb auch die Richtlinie des BMFSFJ. Diese widerspreche insofern dem BVerwG-Urteil von 2012, als es die vom Gericht geforderte "umfassende Einzelfallprüfung" nur subsidiär berücksichtige.
"Nur wenn sich insbesondere nach den Ausführungen des antragstellenden Elternteils Anhaltspunkte ergeben, dass trotz des typisierend ermittelten zeitlichen Anteils der Mitbetreuung durch den anderen Elternteil ausnahmsweise dennoch Alleinerziehung im Sinne des UVG vorliegen könnte, ist nach der Richtlinie eine Einzelfallprüfung vorzunehmen", beklagt Katrin Bülthoff vom VAMV in Berlin gegenüber LTO.
Nach Meinung der Juristin bleibt bei der bestehenden Praxis zum Unterhaltsvorschuss außerdem die Frage offen, woher das Geld zur Versorgung des Kindes kommen soll, wenn ein Elternteil bis zu 66 Prozent das Kind betreut, Unterhaltsvorschuss jedoch abgelehnt wird. "Eine Entlastung von der Betreuung ab 33 Prozent durch den anderen Elternteil bedeutet nicht, dass wesentlich mehr zeitliche oder energetische Ressourcen zur Verfügung stehen als bei einer völligen Alleinbetreuung", so Bülthoff. Der betreffende Elternteil habe in der Regel weder die Zeit noch am Arbeitsmarkt die Verdienstmöglichkeiten, den fehlenden Unterhalt neben der Hauptbetreuung zu erwirtschaften.
DAV-Anwältin verweist aufs Unterhaltsrecht
Vom BVerwG erhoff sich die Juristin, dass es die Anforderungen präzisiert, damit der Begriff der "Alleinerziehung" nicht weiter verwässert. "Wenn ein Elternteil ein Kind überwiegend betreut, so trägt er die überwiegende Zeit allein die Verantwortung für die Betreuung und Versorgung des Kindes im Alltag und ist damit auch als alleinerziehend anzusehen", meint Bülthoff.
In eine ähnliche Richtung argumentiert Eva Becker, Fachanwältin für Familienrecht und Mitglied im Vorstand des Deutschen Anwaltverein DAV: Auch wenn das Familienrecht den Begriff der "Alleinerziehung" nicht kenne, wäre es wünschenswert, wenn sich Verwaltungs- Sozial- und Familienrecht angleichen würden. Becker verweist dabei auf das Unterhaltsrecht, in dem es auf den Umfang der Obhut ankommt, den der jeweilige Elternteil übernimmt. Aber selbst da könne eine Pflicht zur Unterhaltsleistung sogar dann bestehen, wenn die Eltern sich im gleichen Umfang im Rahmen eines Wechselmodells um die Kinder kümmern. Nämlich dann, wenn der eine Teil ein wesentlich höheres Einkommen hat als der andere.
Die Entscheidung des BVerwG dürfte für etliche Familien relevant sein: Schließlich ist nach den Zahlen des VAMV in Deutschland ist fast jede fünfte Familie alleinerziehend. Insgesamt wachsen rund 16 Prozent aller minderjährigen Kinder bei Alleinerziehenden auf. Knapp 85 Prozent der Alleinerziehenden mit Kindern unter 18 Jahren sind Frauen. Mehr als die Hälfte aller alleinerziehenden Mütter bekommt keinen Unterhalt für ihre Kinder, davon wiederum die Hälfte Zahlungen unter dem Mindestunterhalt. Das bedeutet, nur ein knappes Viertel der Kinder erhält einen Unterhalt, dessen Höhe dem Mindestunterhalt entspricht oder diesen übersteigt.
Grundsatzurteil des BVerwG erwartet: . In: Legal Tribune Online, 11.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53386 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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