Mit der üblichen Verzögerung feierte das Bundesverfassungsgericht die Richterwechsel vom Dezember 2023. Sibylle Kessal-Wulf und Peter Müller verließen das Gericht, Holger Wöckel und Peter Frank kamen neu dazu. Christian Rath feierte mit.
Gerichtspräsident Stephan Harbarth wählte einen düsteren Einstieg und erinnerte an die rund 250 Todesopfer der demokratischen März-Revolution im Jahr 1848. Mit Karl Marx sprach er von einem "Totengeläut für die ungeborene Freiheit".
Harbarth wollte aber nicht den derzeitigen Kampf um die Bewahrung der liberalen Demokratie in Deutschland als verlorene Sache darstellen, sondern nur aufzeigen, dass der "Weg zur Freiheit voller Umwege" war und ist.
Im Verlauf der Feierstunde wurde die Stimmmung aber fröhlicher, wozu nicht nur der bestens aufgelegte Peter Müller beitrug, sondern auch die Musikauswahl: Diesmal gab es keine getragene klassische Musik, sondern Jazz vom 82-jährigen saarländischen Unternehmer August-Wilhelm Scheer und seinem Quintett Groovin' High.
Peter Müller war schon vor seiner Zeit als Verfassungsrichter bekannt. Von 1999 bis 2011 war der CDU-Politiker Ministerpräsident des Saarlands. Am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) war er für Wahl- und Parteienrecht zuständig. Er hatte dabei das bisher längste Urteil des BVerfG vorbereitet: 2017 lehnte der Zweite Senat ein NPD-Verbot ab, weil die Partei zwar verfassungsfeindlich, aber nicht relevant genug sei.
Müller verteidigt Abendessen – und kritisiert Biertemperatur
In seinen Abschiedsworten sagte Müller nun, es sei zwar legitim, dass man über seinen Wechsel von der Politik ans Verfassungsgericht kritisch diskutiere. "Es ist aber auch nicht schlecht, wenn Leute mitwirken, die wissen, wie in Parlament und Regierung der Hase läuft." Das Gericht dürfe allerdings nicht zu einem "Elefantenfriedhof für ausgediente Berufspolitiker" werden. "Die Dosis macht das Gift".
Natürlich sei er nicht die "fünfte Kolonne von Angela Merkel" gewesen, betonte Müller. In seinen zwölf Karlsruher Jahren sei er nicht ein einziges Mal von früheren politischen Weggefährten angerufen worden – solange ein Verfahren lief. "Erst nach dem Ende des Verfahrens gab es wieder Kontakt – und zum Teil heftige Kritik."
Müller verteidigte auch die regelmäßigen Treffen zwischen Verfassungsgericht und Bundesregierung, bei denen über grundsätzliche Fragen, aber nicht über konkrete Fälle gesprochen wird. "Die Vorstellung, dass ein durchschnittliches Kalbsgeschnetzeltes und ein nicht einmal sehr gut gekühltes Bier im Kanzleramt einen deutschen Verfassungsrichter bei der Entscheidungsfindung beeinflusst, ist nicht von dieser Welt."
Der Ex-Verfassungsrichter kritisierte den aktuellen Umgang mit der AfD. Die öffentliche Debatte sei auf Verbote und Ausgrenzung fixiert. "Sehen wir hier eine Verzagtheit der Demokraten?" Er erinnerte die deutsche Politik an eine Aussage des NPD-Urteils: "Das Grundgesetz geht davon aus, dass nur die ständige geistige Auseinandersetzung der richtige Weg zur Bildung des Staatswillens ist. Es vertraut auf die Kraft dieser Auseinandersetzung als wirksamste Waffe gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien."
Kessal-Wulf überforderte den Bundestag
Ausgeschieden ist auch Sibylle Kessal-Wulf. Die frühere BGH-Richterin ist zwar nicht so bekannt wie Müller, sie hat aber zwei Urteile hinterlassen, mit denen der Bundestag immer noch keinen vernünftigen Umgang gefunden hat. Zum einen erklärte der Zweite Senat Anfang 2020 § 217 des Strafgesetzbuchs für nichtig, die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung ist seither wieder legal. Eine Neuregelung, die Missbrauch verhindert, ohne das neue Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu gefährden, gelang dem Bundestag noch nicht. Noch gewichtiger ist Kessal-Wulfs Urteil zur Schuldenbremse vom letzten November. Das Urteil könnte noch zum Zerbrechen der Ampel-Koalition führen, weil es einen Kniff für verfassungswidrig erklärte, mit dem die Koalition grünen Klimaschutz finanzieren und dennoch die Schuldenbremse des Grundgesetzes einhalten wollte. Seitdem können Mehrausgaben nach einer Notlage nicht in intransparenten Sonderhaushalten versteckt werden, sondern müssen jedes Jahr neu deklariert werden.
Bevor Kessal-Wulf zu ihren Abschiedsworten ansetzte, spielte das Jazz-Quintet "Das bisschen Haushalt" – natürlich mit viel Improvisation.
Anschließend stellte die ausgeschiedene Verfassungsrichterin fest, dass die Justiz heute "weiblicher geworden" ist, denn es gebe heute erfreulich viele Richterinnen. Anekdotisch erzählte sie aus ihrer Jugend, als ein älterer Richter der Assessorin seine Hose in die Hand drückte, damit sie einen abgefallenen Knopf wieder annähe. Es klang, als sei Kessal-Wulf diese Assesorin gewesen. Aber auch von Kolleginnen habe es nicht nur Unterstützung gegeben. "Aus Orchideen werden Gänseblümchen", habe einst eine ältere Richterin gesagt, die um ihre Sonderstellung als einzige Frau weit und breit gefürchtet habe.
Kessal-Wulf setzte sich in ihrer Rede für eine bessere Ausstattung der Staatsanwaltschaften und Gerichte ein. Gleichzeitig wandte sie sich gegen eine kurzsichtige Absenkung der Prüfungsanforderungen und Einstellungsanforderungen. "Die Urteile der ersten Instanz sind für die Bürger der erste Eindruck von der Justiz", auch hier müsse gut gearbeitet werden. Sie betonte ebenfalls die politische Unabhängigkeit des BVerfG. Die Verfassungsrichter:innen hätten eine "Pflicht zur Undankbarkeit" gegenüber dem Lager, von dem sie einst vorgeschlagen wurden.
Die 65-jährige Richterin hat auch schon eine neue Aufgabe: Sie wird – als erste Frau – Ombudsperson der deutschen Versicherungswirtschaft und schlichtet bald bei Konflikten zwischen Versicherten und Versicherern. Sie folgt dabei auf Wilhelm Schluckebier, ebenfalls ein ehemaliger Verfassungsrichter.
Die Neuen: zwei unterschiedliche Justizkarrieren
Die beiden neuen Richter am Zweiten Senat haben sehr unterschiedliche Justizkarrieren: Holger Wöckel war vor drei Jahren noch wissenschaftlicher Mitarbeiter am BVerfG, tätig im Dezernat des Präsidenten Stephan Harbarth. Vor seiner schnellen Rückkehr als Verfassungsrichter hatte er nur ein kurzes Intermezzo als Richter am Bundesverwaltungsgericht. Für ihn hatte sich vor allem Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) stark gemacht. Wöckel ist nach Ines Härtel erst der zweite Bundesverfassungsrichter mit ostdeutscher Sozialisierung. Er wird u.a. zuständig sein für das Recht des öffentlichen Dienstes.
Dagegen kam Peter Frank nach einer achtjährigen Amtszeit als Generalbundesanwalt in den Zweiten Senat. Manche dachten, dass Frank nun das zuletzt von Kessal-Wulf betreute Strafrecht übernehmen würde. Dazu kam es aber nicht. Vielmehr darf nun der liberale Richter Thomas Offenloch die Verfassungswidrigkeit von Strafgesetzen prüfen. Frank ist stattdessen für Haushaltsrecht, Finanzverfassung, Gefängnisse und Kommunalrecht zuständig. Wie Kessal-Wulf gezeigt hat, können nicht zuletzt Urteile zum Haushaltsrecht und insbesondere zur Schuldenbremse ziemlich bedeutungsvoll sein.
Die nächste Verfassungsrichter-Wahl wird dann Ende November im Bundestag fällig, wenn Josef Christ vom Ersten Senat die Altersgrenze erreicht. Das Vorschlagsrecht liegt zufällig erneut bei der CDU.
Feierstunde zum BVerfG-Richterwechsel: . In: Legal Tribune Online, 25.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54195 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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