BVerfG-Frist läuft zum Jahresende ab: Geheim­di­enste bald ohne Rechts­grund­lage?

von Dr. Markus Sehl

31.10.2023

Der Bundestag muss sich beeilen, die Gesetze von Verfassungsschutz und BND zu überarbeiten. Einen Vorschlag aus dem BMI halten Experten und Ampelpolitiker für schlecht gemacht bis verfassungswidrig. Was kann noch gerettet werden?

Die Zeit läuft ab. Nur noch bis Ende des Jahres läuft die Frist für den Gesetzgeber, Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Übermittlungsbefugnissen für den Verfassungsschutz umzusetzen. Zeit war eigentlich genug. Schon im April 2022 hatte das BVerfG Befugnisse für den Verfassungsschutz in Bayern beanstandet. Das Urteil traf zwar erst einmal nur das Gesetz für die bayerische Behörde. Allerdings wurde schnell klar, dass auch das Verfassungsschutzgesetz des Bundes und Teile des Gesetzes für den Bundesnachrichtendienst (BND) gemessen an den Aussagen aus Karlsruhe nachgebessert werden müssen. "Es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formuliert worden sind, entspricht", sagte der bayerische CSU-Innenminister Joachim Herrmann gleich nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Er sollte Recht behalten. Im September 2022 legte das BVerfG nach, erklärte Übermittlungsbefugnisse des Verfassungsschutzes im Bund für verfassungswidrig und setzte eine Frist für Ende 2023.

Gibt es bis zum Jahresbeginn keine neuen Regeln, müsste manche Geheimdiensttätigkeit von Verfassungsschutz und BND erst einmal eingestellt werden. Ihnen würde schlicht die Rechtsgrundlage fehlen, wichtige Warnungen vor Terroristen oder Spionage könnten ausbleiben. Ein Szenario, das in der derzeitigen Sicherheitslage mit Russlands Angriffskrieg, islamistischem Terror und Antisemitismus, niemand gerne verantworten möchte.

Wann darf der Verfassungsschutz die Polizei einschalten?

Es steht für die nächsten Wochen also nicht viel weniger als eine Reform des deutschen Nachrichtendienstrechts an. Und das im Eiltempo. Gut eineinhalb Jahre nach dem Urteil zu Bayern hat das Bundesinnenministerium (BMI) einen Entwurf zum Verfassungsschutzgesetz angefertigt.

Worum geht es im Detail? Die verfassungsrechtliche Ausgangslage sieht so aus: Der Verfassungsschutz darf frühzeitig und breit beobachten, aber keine Zwangsmittel wie die Polizei anwenden. Eine mächtige Geheimpolizei sollte im Bauplan unter dem Grundgesetz nicht entstehen.

Im April 2022 hatten die Richterinnen und Richter des BVerfG besonders kritisch die Regelungen zur Datenübermittlung abgeklopft, sozusagen die Schaltstelle zwischen Nachrichtendienst und Polizei. Denn was helfen spezifische Regeln für die Überwachung durch den Verfassungsschutz, wenn die so erlangten Informationen bruchlos der Polizei und den Strafverfolgern zur Verfügung gestellt werden könnten, die wiederum die Erkenntnisse so hätten nicht erheben dürfen? Das BVerfG nennt das "informationelles Trennungsprinzip". Es gilt das Prinzip der hypothetischen Neuerhebung, sprich die Kontrollfrage: Dürfte die Polizei diese Informationen im Zeitpunkt der Übermittlung auch aus eigener Kraft erheben? Hat sich also eine Beobachtung zur konkreten Gefahr entwickelt, die den Übergang von Nachrichtendienst- zur Polizeiarbeit markiert? Bekannt wurde etwa der Fall, als 2018 der Verfassungsschutz nach Hinweisen eines Partnerdienstes auf einen Tunesier aufmerksam wurde, der in einer Kölner Hochhauswohnung aus Rizinus-Samen eine biologische Bombe zusammenbaute. Den Fall gab der Verfassungsschutz rechtzeitig an die Polizei ab, die den Mann festnehmen konnte.

Dieses Übermittlungssystem muss nun neu geregelt werden. Wenn es nach dem BMI geht, soll sein Entwurf schon bald vom Bundestag beschlossen werden. Dass das so kommt, damit rechnen nur noch wenige. Denn wie gelungen die Reformpläne aus dem BMI sind, darüber gibt es hinter den Kulissen – bemerkenswerterweise auch in den Reihen der Ampelfraktion – Entsetzen und Sorge. Und zwar so grundsätzlicher Art, dass man meinen könnte, eine baldige Verabschiedung stehe nicht auf der Tagesordnung.

Grünen-Rechtspolitiker: "befremdet von Verhandlungstaktik und Zeitplan"

Vor den Kulissen hört sich das so an: Im Bundestagsplenum wendete sich kürzlich Konstantin von Notz, Vorsitzender des Geheimdienstkontrollgremiums für die Grünen und profilierter Nachrichtendienstrechtler, an das vom Ampelpartner SPD geführte BMI: "Und deswegen sind wir befremdet – Frau Staatssekretärin, ich sage es in aller Kollegialität – von der Verhandlungstaktik und auch dem Zeitplan des Bundesinnenministeriums in diesem sensiblen Gesetzgebungsprozess." Hat das BMI absichtlich auf Zeit gespielt, um seine Version der Verfassungsschutzreform möglichst ohne Widerstand durchzubekommen?

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) ist bekannt für seine pointierten, aber im Ton wohl temperierten Statements zu Gesetzgebungsvorhaben. Seinen Experten für das Nachrichtendienstrecht hat es aber dann Ende August gereicht. Sie fanden morgens eine E-Mail mit dem Entwurf zum Verfassungsschutzgesetz in ihrem Postfach. Mit der Bitte um Stellungnahme binnen 24 Stunden. 24 Stunden für eine Stellungnahme zu knapp 100 Seiten kleinstteiliger Ausführungen. Bei den Verbänden musste der Eindruck entstehen, dass an einer echten Einschätzung sowieso kein Interesse bestehe. "Einfach unverschämt, dreist, irritierend" sei das, heißt es von gestandenen DAV-Experten. Und eine Woche nach der Alibi-Abfrage bei den Verbänden hatte das Kabinett den Entwurf schon beschlossen. Der DAV warnt vor einer Bruchlandung in Karlsruhe, sollte der Entwurf Gesetz werden. Zahlreiche Bestimmungen des Entwurfs seien "nicht durchdacht und verfassungsrechtlich bedenklich bis hin zu klar verfassungswidrig". Das Urteil gegen das Gesetz in Bayern hatte die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) angestrengt, Neuauflage bei den klagefreudigen Freiheitsrechtlern alles andere als ausgeschlossen.

Und um es noch kurioser zu machen: Parallel zu dem kritisierten BMI-Entwurf für den Verfassungsschutz, läuft im Gesetzgebungsverfahren für den Auslandsnachrichtendienst BND ein eigener weiterer Entwurf. Denn auch für den BND müssen nach den BVerfG-Entscheidungen die Übermittlungsbefugnisse nachgebessert werden. Der zweite Entwurf stammt aus dem Kanzleramt, das für den BND zuständig ist. Und an diesem Entwurf haben die Abgeordneten eigentlich nichts auszusetzen, sein Regel-Ausnahme-System bei der Übermittlung halten sie für ausgefeilt. Was ist schief gelaufen? In den Häusern wurde offenbar intensiv und bewusst nebeneinanderher gearbeitet.

Sicherheitsrechtexperte: "weitschweifig, aber letztlich inhaltsleer"

Grünen-Innenpolitiker von Notz hält zentrale Regelungen des BMI-Verfassungsschutzentwurfs für "juristisch so schlicht nicht haltbar." Ähnlich äußert sich Konstantin Kuhle, für die FDP im Kontrollgremium der Geheimdienste. Auch er warnt vor einer neuen Niederlage in Karlsruhe.

Auch Mark Zöller, Professor fürs Sicherheitsrecht an der Uni München, sieht ein Unglück kommen. Statt die Befugnisse zu beschränken, diagnostiziert er "eine Ausweitung der Befugnisse", wie es in einer schriftlichen Stellungnahme zum Entwurf heißt. "Auffällig ist des Weiteren, dass die Entwurfsbegründung in erheblichen Teilen trotz weitschweifiger und juristisch-technischer Formulierung letztlich inhaltsleer bleibt", so die Stellungnahme von Zöller, der für die FDP als Experte im Ausschuss vorgesehen ist. Sollte dieser Entwurf das letzte Wort sein, werde er in Karlsruhe keinen Bestand haben, so Zöller.

Die zuständige BMI-Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter verteidigte den Entwurf im Bundestagsplenum: "Insgesamt sind die neuen Regeln praktikabel. Wir haben eine gute Balance gefunden."

"Unbestimmte Begriffe öffnen Tür und Tor für unbegrenzten Anwendungsbereich"

Das schätzt der Sicherheitsrechtler Zöller ganz anders ein. Vor allem sprachlich unbestimmte Begriffe öffneten Tür und Tor für einen unbegrenzten Anwendungsbereich. Ein Beispiel aus seiner Stellungnahme zur zentralen Übermittlungsvorschrift, § 20, die lautet: "besondere Gelegenheiten durch besondere Sachverhalte oder Rechtsverhältnisse für Handlungen, die die Bestrebungen oder Tätigkeiten besonders fördern." Zöller dazu: "Wer so oft in einem Satz das Wort 'besonders' verwendet, führt vermutlich nichts besonders Gutes im Schilde!"

Ein weiteres Beispiel: Der geplante Nachbarparagraf 19 ist sprachlich so gefasst, dass er auch Übermittlungen an Polizeibehörden zulässt, die bereits aufgrund "drohender Gefahr" einschreiten dürfen. Die "drohende Gefahr" ist eine Neuschöpfung im Polizeirecht. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie es der Polizei erlaubt, noch früher einzugreifen, als es der klassische "Gefahrbegriff" erlaubt. Nämlich schon dann, wenn noch keine hinreichend konkreten Tatsachen vorliegen. Diese Vorverlegung rückt die Polizeiarbeit näher an die Arbeit der Nachrichtendienste im Vorfeld von konkreten Straftaten. Sie hat sich außer in Bayern aber nicht durchgesetzt. Ironischerweise sind gegen diese bayerische "Drohende-Gefahr"-Regelung Verfassungsklagen anhängig – nämlich von SPD, Grüne und FDP. Baut die Ampel also einen umstrittenen Gefahrbegriff in das Gesetz ein, gegen den sie auf Landesebene klagt?

Kurios: Zwei konkurrierende Gesetzentwürfe im Rennen

Bei dem Verfassungsschutzentwurf zeichnet sich ab, dass er in den nächsten Wochen mit Hochdruck umgearbeitet wird. Auch die BMI-Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter scheint sich darauf eingestellt zu haben, wenn sie im Plenum anklingen ließ: "Meine Erfahrung sagt mir natürlich auch, dass gerade bei dieser hochpolitischen Materie das Struck’sche Gesetz gilt: Kein Gesetzentwurf verlässt den Bundestag unverändert."

Am 6. November soll im Bundestag die Anhörungsrunde zu beiden Entwürfen mit Experten stattfinden. Es dürfte viel Gesprächsstoff geben, geladen ist das Who is Who des Nachrichtendienstrechts.

Gesetz reagiert auf Vorfall von mutmaßlichem Maulwurf im BND

In die Ausarbeitung der beiden Entwürfe platzte zudem noch ein Störfall, der das Zeug für einen Spionage-Thriller hat. Ende 2022 wurde der leitende BND-Mitarbeiter Carsten L. festgenommen. Zum Plot gehören ein Diamantenhändler, ein bayerisches Dorffest und heimliche Reisen nach Moskau. Der Generalbundesanwalt wirft L. vor, an dem Verkauf deutscher Staatsgeheimnisse an den russischen Geheimdienst beteiligt gewesen zu sein. Das wäre Landesverrat, Anklage wurde im September erhoben, der Fall liegt beim Kammergericht.

Der neue BND-Gesetzentwurf sieht als Antwort auf den Vorfall nun auch Vollstreckungsmaßnahmen vor. Es mag erstaunen, aber das war dem Dienst in eigener Sache bislang so nicht erlaubt. Er soll nun in Verdachtsfällen Fahrzeuge und Taschen seiner Mitarbeiter kontrollieren dürfen, sowie Mobiltelefone auswerten. Alles zur "Eigensicherung" vor Gegenspionage. Diese Einheit stand zuletzt besonders in der Aufmerksamkeit. Denn ironischerweise war der mutmaßliche Landesverräter L. zuletzt eben in diese sensible Abteilung "Eigensicherung" befördert worden, er sollte sie leiten.

Auch der Verfassungschutzentwurf enthält nun solche Sicherungsbefugnisse in eigener Sache. Zusätzlich gibt es nach außen umstrittene neue Befugnisse. Dass der Verfassungsschutz künftig auch Vermieter oder Vereinstrainer vor Verfassungsfeinden warnen soll, darüber hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet.

Die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte dazu der BILD-Zeitung: "Ich warne vor dieser Ausweitung der Befugnisse der Nachrichtendienste. Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, Bürger vor Verfassungsfeinden zu schützen – nicht aktiv Verdachtsmomente zu verbreiten."

Rückendeckung für den SPD-Entwurf kam von Unions-Fraktionsvize Andrea Lindholz (CSU), sie sagte der BILD-Zeitung: "Es kann nicht sein, dass der Verfassungsschutz von schlimmen Dingen Kenntnis hat, aber zusehen muss, wie sie passieren, weil er niemanden im Vorfeld informieren durfte. In gravierenden Einzelfällen macht es Sinn, dass private Stellen informiert werden dürfen, etwa wenn ein Extremist Waffen oder Sprengstoff kaufen will."

Die kritischsten Punkte bleiben ausgeklammert

Viele Streitpunkte, viel Arbeit für den Innenausschuss in den nächsten Wochen. Dabei bleiben bis zur Deadline einige besonders umstrittene Fragen ausgeklammert, zu denen das BVerfG 2022 ebenfalls eine Überarbeitung angemahnt hat, bei denen aber die Frist nicht greift: etwa der Einsatz von V-Personen, also menschlichen Quellen, die aus ihrer Szene den Geheimdiensten Informationen zutragen. Oder das weitere Schicksal des sogenannten Unabhängigen Kontrollrats. Den hatte das BVerfG bereits 2020 indirekt ins Leben gerufen, er soll die Überwachung durch die Dienste kontrollieren. Spätere BVerfG-Entscheidungen regten an, bei diesem neuen Kontrollgremium besetzt mit Richtern und Beamten weitere Aufgaben zu bündeln. Alles Stoff für eine echte große Reform der Nachrichtendienste – nach dem Jahreswechsel.

 

Anm. d. Red. Beitrag in der Version vom 31.10.23, 16.05 Uhr korrigiert wurde eine Passage zur Eigensicherung, Regeln dazu enthält auch der Verfassungsschutzentwurf.

Zitiervorschlag

BVerfG-Frist läuft zum Jahresende ab: . In: Legal Tribune Online, 31.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53033 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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