Dem EZB-Urteil des BVerfG ist durchaus Positives abzugewinnen, meint Juniorprofessor Matthias Goldmann: Eine Zentralbank mit Herz und Rückenwind für sozialpolitische Belange in der EU. Bedeutet dies aber das Ende der unabhängigen Zentralbank?
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied gestern, dass sowohl das Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank, genauer gesagt des Eurosystems, für Staatsanleihen (Public Sector Purchase Program – PSPP) als auch das dazu ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) "offensichtlich" den Rahmen des Unionsrechts sprengten. Die ersten Reaktionen darauf waren überwiegend harsch. Viele fürchten, dieses Urteil könne Gerichten in Polen oder Ungarn zur Ermutigung dienen, es gleichzutun und Entscheidungen des EuGH etwa zu rechtsstaatlich bedenklichen Justizreformen nun auch wegen "offensichtlicher" Kompetenzanmaßung zu missachten.
Man kann das nicht damit entschuldigen, das BVerfG habe solche "politischen Fragen" gar nicht berücksichtigen dürfen. Denn man kann das Recht nicht losgelöst von seinem politischen Kontext verstehen. Das war auch 1993 nicht anders, als das Gericht in der Maastricht-Entscheidung seine heutige Integrationsrechtsprechung begründete. Der politische Kontext hat sich aber grundlegend gewandelt. Das BVerfG liefert nunmehr mit seiner scharfen EuGH-Kritik die Wolle, aus der rechtskonservative und rechtsextreme Kreise seit geraumer Zeit den Mythos spinnen, die Europäische Union befinde sich seit der Finanz- und Migrationskrise in einem Zustand permanenter Rechtswidrigkeit. Daran dürfte es wenig ändern, dass das BVerfG dem Eurosystem die Möglichkeit einräumt, nochmal bei der Begründung des PSPP nachzufassen und sogar den Anwendungsvorrang des Unionsrechts betont (Rn. 111). Denn es wird sich an seinen Taten messen lassen müssen. Und das Zeugnis, das es dem EuGH erteilt, fällt erschütternd aus. Von "schlechterdings nicht vertretbaren" Begründungen ist im Urteil die Rede.
Karlsruher Verdikt leidet an apodiktischen Formulierungen
Ohne dieser Kritik entgegentreten zu wollen, lohnt sich jedoch ein differenzierter Blick auf das Urteil. Das dürfte schon aus Prinzip geboten sein. Denn das Hauptproblem des Karlsruher Verdikts ist seine streckenweise apodiktische Formulierung. Dass der EuGH die Ausgestaltung von PSPP an den geldpolitischen Zielsetzungen und finanziellen Risiken für die Zentralbank misst, jedoch nicht an seinen wirtschaftspolitischen Auswirkungen, hält das BVerfG nicht lediglich für kritikwürdig, sondern für "offensichtlich" methodisch unvertretbar.
Der vielbeschworene Dialog der Gerichte in Europa ist aber nur zu haben, wenn allseits ein gewisses Maß an Toleranz für unterschiedliche Meinungen und methodische Varianz waltet. Es gilt den Teufelskreis gegenseitiger Absolutheitsansprüche zu überwinden.
Was sich dem Urteil positiv abgewinnen lässt
Lassen wir daher die Frage zu, ob sich dem Urteil etwas Positives abgewinnen lässt, und zwar jenseits der Jubelschreie eingefleischter Monetaristen und dem Kreis der Kläger. Zunächst ist aus Sicht des Eurosystems zweifellos zu begrüßen, dass das BVerfG die Tür für das Quantitative Easing, die Ausweitung der Geldmenge durch das Eurosystem, nicht zuschlägt, sondern eine Nachfrist für Verbesserungen setzt, und sei es nur für eine bessere Begründung. Auch das nicht zur Entscheidung stehende Corona-Programm (Public Emergency Purchase Program) bringt das BVerfG in wirtschaftlicher Hinsicht nicht zu Fall, wenngleich auch hier das Eurosystem mit Blick auf die Aussagen im Urteil umfangreiche Folgeabwägungen nachliefern sollte.
Ferner könnte das Urteil der EU den notwendigen Anstoß verleihen, sich zur Bewältigung ihrer Krisen, einschließlich der Corona-Folgen, nicht mehr immer nur auf die Geldpolitik zu verlassen. Das Eurosystem unter Ex-EZB-Präsident Mario Draghi griff ja nicht aus Lust an der Provokation zu "unorthodoxer" Geldpolitik wie Quantitative Easing, sondern weil nach seiner Auffassung das Vertrauen in die finanzielle Stabilität des Euroraums derart schwach war, dass normale geldpolitische Impulse wirkungslos zu verpuffen drohten. Die Maßnahmen schienen der Deflationsgefahr nicht gewachsen.
Diese Vertrauenskrise ist aber auch das Resultat mangelnder fiskalpolitischer Solidarität. Die letzten Tage ließen Zweifel aufkommen, ob sich daran durch die Corona-Krise etwas ändern wird. Denn die Verhandlungen über den angekündigten Recovery Fund der EU gestalten sich schwierig; ein großer fiskalpolitischer Impuls wird immer unwahrscheinlicher. Sollte das Urteil diesem Projekt Rückenwind verleihen, wäre dem BVerfG zu danken. Zumal Fiskalpolitik viel zielgerichteter wirken kann als Geldpolitik und inhaltliche Schwerpunkte setzen kann, etwa auf die Förderung von Klima- und Zukunftstechnologien. Das Eurosystem kauft dagegen nur Wertpapiere, die schon auf dem Markt sind. Das sind neben Staatsanleihen vor allem Anleihen etablierter Unternehmen.
BVerfG fordert eine Zentralbank mit Herz
Schließlich ist selbst der Kern der Kritik des BVerfG, Eurosystem und EuGH hätten umfangreiche Folgeabwägungen anstellen müssen, juristisch wie integrationspolitisch ein vielversprechender Ansatz. Das BVerfG räumt nämlich auf mit dem monetaristischen Dogma, die Zentralbank solle ihre Geldpolitik durchpeitschen, komme was wolle. Das war genau die Einstellung, mit der die US-Zentralbank Fed seit den 1980ern und die Bundesbank vor allem zu Beginn der 1990er Jahre eine Hochzinspolitik betrieben, die im ersten Fall ein weltweites, im zweiten Fall ein europäisches Erdbeben auslöste.
Diese Pfade waren gesäumt von sozialpolitischem Blut, Schweiß und Tränen. Das BVerfG fordert vom Eurosystem nichts weniger als die Berücksichtigung der wesentlichen wirtschafts-, finanz- und sogar sozialpolitischer Konsequenzen, mithin eine Zentralbank mit Herz. Geldpolitisch bedeutet dies einen Quantensprung. Vom Nierentisch des Monetarismus direkt an den iPad komplexer, datengestützter Folgeabwägungen. Das Triumphgeheul der Klägerseite erscheint vor diesem Hintergrund deutlich verfrüht.
Diese Entscheidung steht auch im Einklang mit dem Urteil zur Bankenunion von Juli 2019. Dort legte das BVerfG zwar gewissen Wert auf die Feststellung, dass sich über den einheitlichen Aufsichtsmechanismus für Banken nicht in die Geldpolitik eingemischt werden darf. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, das Eurosystem dürfe der Stabilitätspolitik keine Beachtung schenken.
BVerfG zeigt Nulltoleranz bei Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH
Mithin ist aus geldpolitischer und integrationspolitischer Sicht bei weitem nicht alles schlecht an dem Urteil. Das größte Opfer dürfte in der Tat der europäische Verfassungsverbund zu tragen haben. Das BVerfG zeigt gegenüber dem EuGH eine Nulltoleranz bei der Ausgestaltung der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das ist umso erstaunlicher, da das BVerfG zunächst in einer ausführlichen Analyse vergangener Verhältnismäßigkeitsprüfungen des EuGH durchaus Unterschiede zwischen beiden Gerichten feststellt.
Beobachter des Europarechts dürfte die Erkenntnis kaum erstaunen, dass der EuGH vor allem die Geeignetheit und Erforderlichkeit scharf stellt, während das BVerfG seit jeher das Schwergewicht auf die dritte Stufe der Angemessenheitsprüfung legt. Wieso Letzteres vorzugswürdig sein soll, erschließt sich jedenfalls nicht aus Artikel 5 Abs. 4 EUV. Auch erscheint es gewagt, die Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH in Bausch und Bogen zu verwerfen. Sie zieht sich über dreißig Randnummern des Urteils von 2018 und lässt sich auf die Einwände des BVerfG wie auch auf die geldpolitischen Einzelheiten des Programms ein.
Gravierender dürften allerdings die Auswirkungen auf die vertraglich garantierte Unabhängigkeit des Eurosystems sein. Nicht nur stellt das BVerfG sie dadurch in Frage, dass es Bundesregierung und dem Bundestag der Verletzung ihrer Pflicht zeiht, Kompetenzverstöße des Eurosystems zu ahnden. Bundesregierung und Bundestag sind aber diejenigen Institutionen, vor denen Einmischung das Eurosystem durch seine vertraglich garantierte Unabhängigkeit geschützt werden soll.
Grenzziehung zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik immer auch eine Frage der Wirtschaftspolitik
Viel erheblicher dürfte sich die Verpflichtung des Eurosystems zu umfangreichen Folgeabwägungen auf die Unabhängigkeit auswirken. Man mag dieses neue geldpolitische Verständnis wie angedeutet begrüßen. Doch es wirft die demokratietheoretische Frage auf, warum eine von im Einzelnen darzulegenden und voraussichtlich gerichtlich überprüfbaren Folgeerwägungen getragene Geldpolitik einer unabhängigen Institution überantwortet werden soll.
Nur die Begrenzung auf ein enges geldpolitisches Mandat rechtfertigt die Unabhängigkeit der Zentralbank. Deshalb gilt in der Europäischen Währungsunion der Primat der Preisstabilität. Sobald die Zentralbank sich aber offiziell und explizit dazu äußern muss, welche Auswirkungen ihrer Geldpolitik sie erwartet und für akzeptabel hält, mögen sie die Lage der Sparer, die Stabilität des Bankenwesens, die Staatsverschuldung und Haushaltsdisziplin oder die allgemeine konjunkturelle Entwicklung betreffen, macht sie keine Geldpolitik mehr, sondern Wirtschaftspolitik.
Die Grenzziehung zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik ist immer auch eine Frage der Wirtschaftspolitik. Damit hat sich das BVerfG ein trojanisches Pferd ins Haus geholt. Der Versuch, das Eurosystem an wirtschaftspolitischem Handeln zu hindern, zwingt es paradoxerweise dazu, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen. Zwar gestattet Artikel 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV dem Eurosystem die Förderung der unionalen Wirtschaftspolitik, jedoch nur als sekundäres Ziel, das der Preisstabilität unterzuordnen ist. Das BVerfG macht die Preisstabilität nun abhängig von wirtschaftspolitischen Einschätzungen.
Wirtschaftspolitik wie die eingeforderten Folgeabwägungen sind allerdings das Proprium der Exekutive, deren demokratische Legitimation sich von derjenigen des Eurosystems grundlegend unterscheidet. Man kann spekulieren, ob der EuGH nicht gerade deshalb die Finger von sozial- und wirtschaftspolitischen Folgeabwägungen ließ, weil dies sonst dem Eurosystem als Mandatsüberschreitung hätte ausgelegt werden können.
Demokratische Legitimationsdefizite drohen
An der rechtlichen Unabhängigkeit des Eurosystems ändert sich dadurch zunächst einmal nichts. Doch dürfte sie über kurz oder lang politisch unhaltbar werden. Dann bleiben grob gesagt zwei Handlungsoptionen. Man könnte zum einen die Geldpolitik einem politisch besser dazu legitimierten Organ wie der Kommission oder gar dem Rat überantworten. Gott bewahre, mögen Monetaristen seufzen. Die Alternative wäre der grundlegende Umbau des Eurosystems zu einer demokratischen Institution. Die Mitglieder des Direktoriums sowie die nationalen Zentralbankpräsidenten müssten demokratisch gewählt werden, ob vom Parlament oder gar durch Direktwahl, auf der Grundlage eines wirtschafts- und sozialpolitischen Programms.
Ob und wie sich dieses mit regierungsseitig gewünschter Politik verträgt, dürfte eine Schlüsselfrage für die Gewaltenteilung im 21. Jahrhundert werden. Die Rechtskontrolle eines demokratisch legitimierten Eurosystems müsste dagegen zurückgefahren werden auf das Kontrollniveau exekutiver Akte. Für währungsrechtliche Überraschungen aus Karlsruhe dürfte dann kein Raum mehr bleiben.
Der Autor Dr. Matthias Goldmann ist Juniorprofessor für Internationales Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Universität Frankfurt.
Urteil zu EZB-Ankaufprogramm und EuGH: . In: Legal Tribune Online, 06.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41527 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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