Das BVerfG hat ein Organstreitverfahren der Linken-Fraktion im Bundestag für unzulässig erklärt – aber offengehalten, wie es das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, der EU und den Mitgliedstaaten bewerten wird.
Man kann sich das mitten in der Corona-Pandemie vielleicht nicht mehr so richtig vorstellen, aber CETA, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten und Kanada, hat noch vor wenigen Jahren sehr viele Menschen sehr aufgeregt: Im September 2016 gingen in vielen deutschen Großstädten Zehntausende auf die Straße, um gegen das Abkommen zu demonstrieren. Sie befürchteten niedrigere Standards beim Verbraucherschutz und bei Arbeitnehmerrechten. Heftig kritisiert wurde auch das Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten vor einem besonderen CETA-Gericht.
Das Abkommen wurde dennoch unterzeichnet, im September 2017 trat es vorläufig in Kraft – allerdings nur für solche Bereiche, die unstreitig in der Zuständigkeit der EU liegen. Damit es vollständig in Kraft treten kann, müssen alle EU-Mitglieder das Abkommen ratifizieren. Bundestag und Bundesrat haben noch nicht über CETA entschieden.
Denn natürlich landete dieses hoch umstrittene Vorhaben in Karlsruhe - und zwar gleich auf mehreren Wegen. So haben die Nicht-Regierungs-Organisationen Foodwatch, Campact und Mehr Demokratie mehr als 125.000 Menschen mobilisiert, die sich einer Verfassungsbeschwerde anschlossen. Zudem hat die Bundestagsfraktion der Linken zwei Organstreitverfahren angestrengt. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie weit darf die EU beim Abschluss von Freihandelsabkommen gehen? Und welche Rolle spielen dabei die nationalen Parlamente?
Einen der Anträge der Linken-Fraktion hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nun als unzulässig verworfen (Urt. v. 2.3.2021, Az. 2 BvE 4/16). Dabei ging es zwar nur um einen speziellen Ausschnitt in dem großen Streit, dennoch hatte der Zweite Senat unter Vorsitz von Doris König die Gelegenheit, ein paar grundsätzliche Dinge zur Rolle des Bundestags zu sagen.
Wenn es ein ultra-vires-Akt war, hätte ein Gesetz auch nicht geholfen
Der Entscheidung vorangegangen war eine grundlegende Frage. Gem. Art. 23 Grundgesetz (GG) trifft den Bundestag eine Integrationsverantwortung, das heißt, er wirkt in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Daraus ergebe sich "das Recht, zugleich aber auch die Pflicht des Parlaments, seine Integrationsverantwortung effektiv wahrzunehmen", betont das BVerfG. Aber was genau muss der Bundestag dafür tun?
Die Koalition aus CDU, CSU und SPD hatte am 22. September 2016 eine Stellungnahme zur vorläufigen Anwendung von CETA verabschiedet. Darin forderte der Bundestag die Bundesregierung unter anderem dazu auf, das Parlament zu Angelegenheiten im Zusammenhang mit CETA weiterhin umfassend und frühzeitig zu informieren. Außerdem solle CETA als gemischtes Abkommen auf den Weg gebracht werden, das sowohl von der EU wie auch den Mitgliedstaaten abgeschlossen wird – so kommt es zu dem laufenden Ratifizierungsverfahren. Zudem sollte die Bundesregierung Ausnahmen von der vorläufigen CETA-Anwendung vereinbaren, insbesondere im Bereich des Investitionsschutzes.
Nach Ansicht der Linken reichte das nicht aus. Erforderlich war ihrer Auffassung nach vielmehr ein förmliches Gesetz, also ein "Mandatsgesetz", das der Bundesregierung vorschreibt, wie sie sich in den Verhandlungen und bei der Abstimmung im Rat zu verhalten hat. Zugleich betonten die Abgeordneten der Linken, dass sie die vorläufige Anwendung von CETA für einen Ultra-vires-Akt halten: Die EU handele außerhalb ihrer Kompetenzen.
Hier hakte der Zweite Senat in dem am Dienstag veröffentlichten Urteil nun ein. Sollte es sich um einen Ultra-vires-Akt handeln, hätte ein förmliches Gesetz auch nicht weitergeholfen, befanden die Verfassungsrichterinnen und -richter. Das Grundgesetz kenne gerade "kein Mandatsgesetz, das eine Inanspruchnahme von Hoheitsrechten durch die Europäische Union oder andere zwischenstaatliche Einrichtungen ultra vires legitimieren könnte", heißt es in der Mitteilung des Gerichts.
Mit anderen Worten: Nimmt die EU Hoheitsrechte war und überschreitet dabei die ihr vertraglich eingeräumten Kompetenzen oder berührt die Verfassungsidentität, dann handelt sie verfassungswidrig. Ein solches Handeln kann das Parlament aber nicht im Vorhinein legitimieren. Im Gegenteil: Der Gesetzgeber darf die Bundesregierung schon gar nicht dazu ermächtigen, einem Ultra-vires-Akt zuzustimmen, so die Richterinnen und Richter.
Karlsruhe wird CETA noch gründlich prüfen
Damit machte der Zweite Senat auch unmissverständlich klar: Was ultra vires ist und was nicht, das prüft Karlsruhe. Tatsächlich hatte das BVerfG die vorläufige Anwendung von CETA abgesegnet – allerdings mit zahlreichen Einschränkungen. Im Oktober 2016 hatten die Karlsruher Richterinnen und Richter Eilanträge, die die vorläufige Anwendung von CETA stoppen sollten, abgelehnt (Urt. v. 13.10.2016, 2BvR 1368/16 u.a.).
Der Zweite Senat erklärte damals, es sei nicht ausgeschlossen, dass der Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA als Ultra-vires-Akt zu verstehen sei, auch eine Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität sei nicht ausgeschlossen. So dürfe es der EU unter anderem an einer Vertragsschlusskompetenz für Portfolioinvestitionen, den Investitionsschutz, den internationalen Seeverkehr, die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen und den Arbeitsschutz fehlen, möglicherweise würden zudem Hoheitsrechte auf das Gerichts- und das Ausschusssystem weiterübertragen werden.
Das BVerfG befand damals aber: Ein Ultra-vires-Akt könne durch Ausnahmen von der vorläufigen Anwendung vermieden werden. Zudem müsse sichergestellt werden, dass Deutschland die vorläufige Anwendung von CETA auch einseitig beenden könne.
So kommt es, dass CETA schon seit mehr als drei Jahren vorläufig in Kraft ist, dabei aber eben entsprechende Ausnahmen vorgesehen sind. Der Bundestag will abwarten, was das BVerfG inhaltlich zur Unterzeichnung und zur vorläufigen Anwendung sagt – und erst dann ratifizieren.
Debattieren, Stellungnehmen, Kompetenzen übertragen – was der Bundestag tun kann
Bis dahin gibt das BVerfG dem Bundestag mit seinem Urteil noch ein paar freundliche Worte zur Integrationsverantwortung mit auf den Weg. So habe sich der Bundestag intensiv mit CETA auseinandergesetzt, attestiert Karlsruhe, etwa in zahlreichen Plenarsitzungen, Ausschusssitzungen und durch die Anhörung von Sachverständigen. Es sei nicht ersichtlich, dass er mit dem Beschluss der Stellungnahme seine Integrationsverantwortung verletzt habe.
Zudem macht der Zweite Senat klar, welchen Spielraum der Bundestag hat – selbst wenn es sich um einen Ultra-vires-Akt handeln sollte: Der Bundestag könne etwa eine Kompetenzüberschreitung nachträglich legitimieren, indem er – im Zusammenwirken mit den anderen zuständigen Verfassungsorganen - der EU weitere Hoheitsrechte überträgt. Die Grenze für diese Übertragung bilde Art. 79 Abs 3 GG, also die Verfassungsidentität.
Wenn der Bundestag einen Ultra-vires-Akt hingegen nicht nachträglich legitimieren will, könne er, so das BVerfG, stattdessen auf eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) hinwirken, Maßnahmen beanstanden oder das Stimmverhalten der Bundesregierung beeinflussen. Dazu könne er sich seines Frage-, Debatten- und Entschließungsrechts bedienen.
Und noch eine Faustformel zur Integrationsverantwortung schickt Karlsruhe nach Berlin: Bei einem vom BVerfG festgestellten Ultra-vires-Handeln oder einer Verletzung der Verfassungsidentität müsse es jedenfalls eine Plenardebatte geben. So weiß man in Berlin schon mal was zu tun ist – falls Karlsruhe CETA doch noch als ultra vires beurteilen sollte.
Linken-Antrag zu CETA unzulässig: . In: Legal Tribune Online, 02.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44400 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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