Weil die Behörde die hessische Corona-VO unzutreffend ausgelegt hat, musste sie noch einmal neu entscheiden – unter besonderer Beachtung der Versammlungsfreiheit. Das BVerfG hatte die sofortige Vollziehbarkeit eines Demo-Verbots ausgesetzt.
Mit einer Eilentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe dem Anmelder einer Versammlung im hessischen Gießen einen juristischen Teilerfolg verschafft. Die Richter der 1. Kammer des Ersten Senats haben die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen ein Versammlungsverbot der Stadt wiederhergestellt. Die Gießener Behörde muss jetzt erneut entscheiden, ob sie die für den 16. und 17. April geplanten Versammlungen unter Auflagen erlaubt oder komplett untersagt.
Ausschlaggebend für das erfolgreiche Eilverfahren (BVerfG, Beschl. v. 15.04.2020 Az. 1 BvR 828/20) war eine unzutreffende Rechtsauslegung bei der Versammlungsbehörde. Die Verfassungsrichter führen in ihrem Beschluss aus, dass die Gießener Versammlungsbehörde bei ihrer Entscheidung eine falsche Vorstellung von der Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus hatte.
Die Behörde habe unzutreffend angenommen, dass die Verordnung ein generelles Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen, die nicht demselben Hausstand angehören, vorsehe. Deshalb hätten die Behördenmitarbeiter auch nicht beachten können, dass sie zum Schutz der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eigentlich bei ihrer Entscheidung einen Spielraum hätten. Neben dem Totalverbot wäre also noch Raum für eine Erlaubnis mit Auflagen gewesen. Es kam zum Ermessensausfall.
Demo mit Sicherheitsabstand, Hinweisschildern und festen Startpositionen geplant
Am 4. April 2020 meldete der Beschwerdeführer mehrere Versammlungen unter dem Motto "Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen" an. Als vorgesehene Versammlungstermine wurden der 14., 15., 16. und 17. April 2020, jeweils von 14 bis 18 Uhr, genannt. Er gab dabei eine erwartete Teilnehmerzahl von 30 Personen an. Geplant waren jeweils eine rund zweistündige Auftaktkundgebung am Berliner Platz in Gießen sowie ein anschließender Aufzug durch mehrere Straßen mit drei jeweils 15-minütigen stationären Zwischenkundgebungen.
Der Anmelder hatte sich auch Gedanken zu Corona-Sicherheitsvorkehrungen gemacht und informierte die Behörde über seine Vorschläge. Die Versammlungsteilnehmer würden durch Hinweisschilder zur Einhaltung von Sicherheitsabständen angehalten und von Ordnern auf entsprechend markierte Startpositionen gelotst. Die Markierungen der Startpositionen befänden sich in einem Abstand von 10 Metern nach vorn und nach hinten und 6 Metern zur Seite. Sie würden jeweils von Einzelpersonen bzw. Wohngemeinschaften oder Familien eingenommen. Redebeiträge würden über das eigene Mobiltelefon des jeweiligen Redners zu einer Beschallungsanlage übertragen. Während des Aufzugs würden die vorgesehenen Abstände beibehalten und es werde darauf geachtet, dass neu hinzukommende Versammlungsteilnehmer sich hinten einreihten.
Für Vorschläge zu weitergehenden Infektionsschutzmaßnahmen sei man dankbar; entsprechende Auflagen werde man befolgen, so gibt es der Beschluss des BVerfG wieder.
Behörde befürchtet "Provokation" gegenüber Mitbürgern
Nach einem Gespräch mit dem Anmelder untersagte die Behörde am 8. April die Versammlung dennoch. Sie befürchtete bei Durchführung der Versammlungen eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung. Die Versammlungen würden gegen § 1 Abs. 1 der Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020 in der Fassung der Verordnung vom 30. März 2020 verstoßen. Danach seien die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des eigenen Hausstands auf das absolut notwendige Minimum zu reduzieren.
Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit sei nur noch mit einer weiteren, nicht dem eigenen Hausstand angehörigen Person gestattet. Bei – zufälligen – Begegnungen mit anderen Personen sei ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. Öffentliche Verhaltensweisen, die geeignet seien, das Abstandsgebot zu gefährden, seien unabhängig von der Personenzahl untersagt. Zu den danach verbotenen Verhaltensweisen zähle auch die Durchführung einer öffentlichen Versammlung.
Erfahrungsgemäß würden bei Versammlungen aller Art Mindestabstände nicht eingehalten, so die Behörde. Dies könne auch der Beschwerdeführer nicht sicherstellen. Weil die Versammlungen von der Mehrheit der Stadtbevölkerung, die sich zu einem ganz überwiegenden Teil an die Corona-Verordnungen des Landes halte, als Provokation empfunden würden, sah die Behörde die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdet. Sie ordnete für das Verbot die sofortige Vollziehung an.
BVerfG prüft ausnahmsweise Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde
Ein Widerspruch bei der Behörde wie auch die Anträge auf Eilrechtsschutz beim Verwaltungsgericht Gießen und beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof blieben erfolglos. Am 14. April erhob der Anmelder deshalb Verfassungsbeschwerde und beantragte Eilrechtsschutz aus Karlsruhe.
Im Eilverfahren vor dem BVerfG bleiben grundsätzlich die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, außer Betracht. Die Richter nehmen eine Folgenabwägung vor. Grundsätzlich gilt deshalb für das Prüfprogramm: Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe
Allerdings stand der Gießener Fall unter besonderen Vorzeichen. "Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde können (…) maßgeblich werden, wenn verwaltungsgerichtliche Beschlüsse betroffen sind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind und die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, insbesondere wenn die behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme", heißt es in dem Beschluss.
Das gelte insbesondere dann, wenn aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereiteln würde. Für anderweitigen Rechtsschutz lief sozusagen die Zeit davon, das BVerfG war die letzte Hoffnung für den Anmelder.
Konkrete Umstände der geplanten Demo nicht berücksichtigt
Die Verfassungsrichter der 1. Kammer stellen fest, dass die hessische Verordnung jedenfalls Versammlungen unter freiem Himmel für mehr als zwei nicht demselben Hausstand angehörige Personen nicht generell verbietet. Demgegenüber habe die Behörde angenommen, der Verordnungsgeber habe "auch bewusst öffentliche Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz unterbinden" wollen.
Diese Auffassung hat die Behörde in ihrer Stellungnahme von 15. April 2020 auch noch einmal wiederholt. Sie gehe von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen aus, soweit diese nicht demselben Hausstand angehören.
Mit dieser Auffassung konnte die Behörde der grundrechtlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit von vornherein nicht ausreichend Rechnung tragen, heißt es in dem Beschluss des BVerfG. Zudem vermissen die Verfassungsrichter eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen der geplanten Versammlung. Die Behörde mache "überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten und lässt auch damit die zur Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG bestehenden Spielräume des § 1 der Verordnung leerlaufen", so die Verfassungsrichter.
Versammlung mit Sicherheitsauflagen statt Totalverbot?
Die Entscheidung liegt nun wieder bei der Stadt Gießen. Ihre Versammlungsbehörde muss nun noch einmal – allerdings unter Ausübung ihres Ermessens – über die Versammlung entscheiden. Wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass Auflagen unzureichend sind, kann sie die Versammlung auch erneut untersagen.
Wie die Deutsche Presse-Agentur am Donnerstagnachmittag berichtet, sei die Versammlung jetzt unter Auflagen zugelassen worden Demnach habe die Stadt die Kundgebung auf eine Stunde und die Teilnehmerzahl auf maximal 15 begrenzt. Alle müssten Mundschutz tragen und mindestens 1,5 Meter Abstand zueinander halten.
Zuletzt gab es deutschlandweit mehrere Gerichtsentscheidungen, die einen Weg mit Schutzauflagen und gegen Totalverbote von Versammlungen vorgezeichnet haben. So hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für Gründonnerstag zu einer Mini-Demo am Isarufer in München entschieden, die Behörde erlaubt die Versammlung unter Auflagen. Entscheidend waren strenge Vorgaben zum Abstand zwischen den Teilnehmern. Zuvor hatte bereits das VG Münster sich ähnlich zu einer kleinen Versammlung mit maximal 15 Teilnehmern und 1,5 Metern Sicherheitsabstand verhalten.
Markus Sehl, Nach Teilerfolg beim BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41325 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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