Baden-Württemberg will, dass Sexualstraftaten gegen Minderjährige nicht mehr aus dem Bundeszentralregister gelöscht werden. Ein entsprechendes Gesetz liegt im Bundesrat. Ein logischer Schritt oder politischer Aktionismus?
Das Szenario ist für viele eine Horrorvorstellung: Ein wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen Verurteilter darf in einer Schule, einem Kindergarten oder einer Nachmittagsbetreuung wieder mit Kindern arbeiten – und weder Eltern noch Vorgesetzte wissen etwas davon. Sollte nicht "so jemand" nie wieder beruflich mit Kindern zu tun haben dürfen?
Die Antwort wird für viele Eltern und Erzieher auf der Hand liegen, aber die rechtliche Situation ist komplex. Im Grundsatz gilt: Wer für eine Tat verurteilt wird, der verbüßt anschließend eine Strafe, um seine Schuld zu begleichen und hat damit seinen Frieden mit der Rechtsordnung gemacht. Es ist allerdings nicht so, dass ein Strafurteil gleich in Vergessenheit geriete, wenn der Täter seine Strafe abgesessen hat: Sämtliche strafrechtlichen Verurteilungen werden im Bundeszentralregister (BZR) gespeichert.
Die Folge eines solchen Eintrags ist zunächst einmal nur, dass die Verurteilung behördenintern gespeichert bleibt. Doch auf der Grundlage des BZR werden auch die Führungszeugnisse erstellt, die etwa Arbeitgeber vor einer Einstellung verlangen können. Darüber hinaus können verschiedene Behörden, Gerichte sowie die Rechtsanwaltskammern in bestimmten Fällen die BZR-Eintragungen einsehen.
Um ein lebenslanges Stigma zu vermeiden und dem Resozialisierungsziel Rechnung zu tragen, werden die Eintragungen allerdings nach Ablauf einer bestimmten Frist, die sich nach Art und Schwere der Tat richtet, wieder getilgt. Einzig Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus bleiben ein Leben lang gespeichert. Ins Führungszeugnis werden die Eintragungen aus dem BZR ebenfalls nur zeitlich begrenzt aufgenommen, allerdings gelten dafür eigene Fristen zwischen drei und zehn Jahren. Nach dieser Zeit wird eine im BZR eingetragene Verurteilung nicht mehr ins Führungszeugnis übernommen. Ab diesem Zeitpunkt darf sich der Täter wieder als nicht vorbestraft bezeichnen.
Sexualstraftaten gegen Minderjährige nicht mehr löschen
Die Landesregierung in Baden-Württemberg will diese Regelung nun verschärfen mit Blick auf eine Tätergruppe, die traditionell einen besonders schlechten Stand in der öffentlichen Diskussion hat: Für Sexualstraftaten gegen Minderjährige sollen einige Tilgungsfristen künftig nicht mehr gelten, so ein Gesetzentwurf aus dem von Guido Wolf (CDU) geführten baden-württembergischen Justizministerium.
Die Eintragung im BZR und jene im sogenannten erweiterten Führungszeugnis sollen demnach ein Leben lang bestehen bleiben. Das erweitere Führungszeugnis können Arbeitgeber verlangen, wenn der Betroffene eine Ausbildungs- oder Betreuungstätigkeit oder eine vergleichbare Funktion im Umgang mit Minderjährigen aufnehmen will. 2010 eingeführt, soll es Betreuungseinrichtungen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen mehr Informationen über ihre Aufsichtspersonen ermöglichen.
Derzeit ist die Rechtslage: Bei einer Verurteilung wegen schwerwiegenderen Sexualdelikten zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe gilt eine Aufnahmefrist für das einfache wie das erweiterte Führungszeugnis von zehn Jahren. Im BZR werden die Verurteilungen bis zu 20 Jahre lang gespeichert. Verurteilungen wegen spezieller Tatbestände wie etwa der Verbreitung von Kinderpornographie zu mindestens einem Jahr bleiben im normalen Führungszeugnis in der Regel schon nach fünf Jahren unberücksichtigt, im erweiterten werden auch sie zehn Jahre lang aufgenommen.
Beschäftigungsverbot für Sexualstraftäter in der Jugendhilfe durchsetzen
Der Gesetzgeber hat in jüngerer Vergangenheit neben dem erweiterten Führungszeugnis eine weitere Maßnahme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Sexualstraftätern ergriffen. Mit Wirkung vom 1. Januar 2012 trat die Neufassung von § 72a des Achten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) in Kraft, der einen "Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen" vorsieht. Danach dürfen öffentliche Träger in der Jugendhilfe keine Personen beschäftigen, die wegen bestimmter Straftaten gegen Minderjährige vorbestraft sind.
Dazu müssen sie vor der Einstellung und danach in regelmäßigen Abständen einfache und erweiterte Führungszeugnisse anfordern. Für den Beschäftigungsausschluss gilt von Gesetzes wegen keine Frist, praktisch aber schon: Wenn die Einträge gelöscht sind, kann die zuständige Stelle eine einschlägige Vorbestrafung gar nicht mehr nachvollziehen.
Diese Rechtslage, so heißt es in dem baden-württembergischen Gesetzentwurf, "hat zur Folge, dass es wegen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen vorbestraften Personen derzeit bereits wenige Jahre nach der Verurteilung möglich ist, einer beruflichen und ehrenamtlichen Beaufsichtigung, Betreuung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen (…) nachzugehen." Die Gefährdung der Minderjährigen durch einen solchen engen und unbeaufsichtigten Kontakt mit verurteilten Sexualstraftätern sei "nicht hinzunehmen und zum Schutz der Minderjährigen zu vermeiden." Ist die Gesetzesinitiative also nur ein logischer Schritt, um eine evidente Unrichtigkeit zu korrigieren?
Klischee des Triebtäters trifft oft nicht zu
Was auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen mag, erweist sich auf den zweiten als nicht mehr so schlüssig, findet Kevin Franzke. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Seminar der Universität Bonn und hat sich in seiner Dissertation u. a. empirisch mit Sexualstraftaten zulasten von Minderjährigen auseinandergesetzt. Der sexuelle Missbrauch von Kindern stehe – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – nicht zwangsläufig mit Pädophilie in Zusammenhang, sagt Franzke: "Schätzungen zufolge dürften pädophile Neigungen allenfalls in einem Drittel aller Fälle eine Rolle spielen. Bei den übrigen Fällen handelt es sich um sogenannte Ersatzhandlungen, die oft im Zusammenhang mit sozialem Abstieg und allgemeiner Gewaltkriminalität stehen." Zudem müsse man auch die auffallend große Gruppe jugendlicher Beschuldigter und oft stark entwicklungsverzögerter Heranwachsender berücksichtigen.
Dass nicht alle Fälle, die als Sexualstraftaten abgeurteilt werden, dem Klischee des pädophilen Triebtäters folgen, zeigt etwa der Fall eines 14-Jährigen, der wegen eines Knutschflecks, den er einvernehmlich am Hals seiner 13-jährigen Mitschülerin verursacht hatte, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist. Bekanntheit erlangte der Fall, weil sich der Junge bis zum Bundesverfassungsgericht gegen die Abgabe einer DNA-Probe wehrte – letztlich erfolgreich. Bei sexuellem Kontakt mit Kindern macht es nach derzeitiger Rechtslage für die Strafbarkeit keinen Unterschied, ob dieser einvernehmlich erfolgt, ebenso wenig wie das Alter des Täters, solange er strafmündig ist.
Auch die verbreitete Annahme, dass Täter des sexuellen Missbrauchs von Kindern häufig rückfällig würden, lasse sich vor dem empirischen Hintergrund so nicht halten, gibt Franzke zu bedenken.
Franzke weist zudem auf den "erheblich divergierenden Unrechtsgehalt" etwa der §§ 176, 176 a, 176b und 184b StGB hin, die alle von dem Gesetzentwurf erfasst werden: "Verdient derjenige, der ein Kind durch den Missbrauch tötet, tatsächlich registerrechtlich dieselbe Behandlung wie jemand, der vor einem Kind exhibiert oder der im Internet aus fehlgeleiteter Neugier einmalig nach Kinderpornographie sucht und dabei womöglich noch scheitert?"
Dass bei schweren Delikten ein lebenslanger Ausschluss von Tätigkeiten in der Jugendhilfe gerechtfertigt sein kann, steht auch für Franzke außer Frage, wie er betont. Weitergehende Regelungen seien aber "weder erforderlich noch in der vorgeschlagenen Herangehensweise nach dem ‚Gießkannenprinzip‘ verhältnismäßig und könnten sich schnell durch ihre massiv stigmatisierende Wirkung als das Gegenteil der angestrebten Prävention erweisen." Zudem sei statistisch in jüngerer Vergangenheit keine Zunahme an entsprechenden Delikten zu verzeichnen.
Justizministerium: Sonstige Berufe nicht betroffen
Schon nach derzeitiger Rechtslage würde ein "sauberes" erweitertes Führungszeugnis allerdings im Zweifel verlangen, dass ein Täter zehn Jahre lang nicht mehr einschlägig in Erscheinung getreten wäre. Warum also die Verschärfung, die Baden-Württemberg nun anstrebt? Die Schwere des Delikts sei dabei nicht entscheidend, heißt es seitens des Justizministeriums. Schließlich gehe es nicht um die Sanktionierung begangener, sondern um die Verhinderung künftiger Straftaten.
Für das Ministerium ist der Fall klar: "Die Verurteilungen wegen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern zeigen, dass der Verurteilte sexuelles Interesse an Kindern hatte, auch wenn sich dieses teilweise – ggf. noch – nicht im realen Missbrauch eines Kindes durch den Verurteilten selbst manifestiert hat", so Pressesprecher Robert Schray gegenüber LTO. Minderjährige seien "vor einem engen und unbeaufsichtigten Umgang mit diesen Tätern dauerhaft zu schützen".
Die Resozialisierung der Täter wolle man deshalb keineswegs aufgeben, betont er. Sie werde dadurch gewährleistet, dass die Verurteilungen lediglich in das erweiterte Führungszeugnis dauerhaft aufgenommen würden, welches nur ein beschränkter Kreis von Arbeitgebern verlangen kann. Die verurteilten Sexualstraftäter würden daher in ihrem sonstigen beruflichen Fortkommen nicht beeinträchtigt. Allerdings wäre die Regelung bereits auf Hausmeister in Schulen oder Bademeister anwendbar, kritisiert Franzke. Der Eingriff in die Berufsfreiheit wiegt damit nicht wenig.
Der baden-württembergische Gesetzentwurf wurde Mitte Dezember von der Landesregierung in den Bundesrat eingebracht. Die Initiative hat auf Länderebene bereits Unterstützer gefunden. Nach Auskunft des Justizministeriums sind Nordrhein-Westfalen und das Saarland bereits beigetreten. Um weitere Zustimmung wird nun geworben. Als nächster Schritt steht die Beratung in den Ausschüssen des Bundesrates an.
Bundeszentralregister: . In: Legal Tribune Online, 03.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40039 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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