Wahlrechts-Entscheidung steht bevor: Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt könnte Link­s­partei retten

von Dr. Christian Rath

29.07.2024

Es ist die staatspolitisch wichtigste Entscheidung des Jahres. Am Dienstag wird das BVerfG über das neue Bundestagswahlrecht urteilen. Die Richter werden entscheiden, wie wir 2025 wählen werden. Christian Rath wagt eine Prognose.

Mit dem neuen Wahlrecht, das der Bundestag im März 2023 beschloss, wollte die Ampel-Koalition den Bundestag, der aktuell 734 Abgeordnete umfasst, dauerhaft auf 630 Sitze verkleinern. Deshalb wurden Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft. Und weil es keine Überhangmandate mehr gibt, werden nicht alle Wahlkreissieger in den Bundestag einziehen, das heißt: die Wahlkreissieger mit den schwächsten Erststimmen-Ergebnissen erhalten unter Umständen kein Mandat. Daneben wurde auch die Grundmandateklausel abgeschafft, die Parteien den Einzug in den Bundestag ermöglichte, wenn sie zwar an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, aber mindestens drei Direktmandate in den Wahlkreisen holten.

Eine breite Front von Klägern wollte verhindern, dass dieses Wahlrecht bestehen bleibt und hat beim Bundesverfassungsgericht geklagt. Für die mündliche Verhandlung im April hatte das Gericht sieben Klagen ausgewählt: eine Normenkontrolle von 195 Abgeordnete von CDU/CSU, eine Normenkontrolle des Landes Bayern und eine Organklage der CSU, Organklagen der Linken als Partei und als Bundestagsfraktion sowie mit zweihundert Personen als Verfassungsbeschwerde sowie eine Verfassungsbeschwerde von 4.200 Personen, die der Verein "Mehr Demokratie" koordinierte.

Korrekturbedarf bei der Grundmandateklausel

Wie sich in der mündlichen Verhandlung mit seltener Deutlichkeit abzeichnete, wird das Bundesverfassungsgericht wohl den ersatzlosen Wegfall der Grundmandateklausel rügen.

Diskutiert wurde dabei kaum über die Folgen für die Linke, die bei der letzten Bundestagswahl 2021 nur deshalb in den Bundestag einziehen konnte, weil sie drei Direktmandate in Berlin und Leipzig holte. Mit 4,9 Prozent der Zweitstimmen wäre die Linke eigentlich draußen gewesen. Was die Richter viel mehr interessierte, war das Schicksal der CSU. Diese musste 2001 zwar die Grundmandatsklausel nicht in Anspruch nehmen, war mit 5,2 Prozent aber nicht weit davon entfernt.

Sollte bei der kommenden Bundestagswahl 2025 der Prozentanteil der CSU unter 5 Prozent fallen (wonach es momentan aber nicht aussieht), wäre die CSU nicht im Bundestag vertreten. Sie bekäme also keinen einzigen Abgeordnetensitz, selbst wenn sie in jedem einzelnen der rund 40 bayerischen Wahlkreis die meisten Stimmen erzielte. Der Verlust aller Mandate für die CSU könnte auch Auswirkungen auf die Regierungsbildung im Bundestag haben, weil der CDU die natürliche Partnerin fehlen würde und sie allein deutlich schwächer wäre.

Mehrere Verfassungsrichter:innen sahen angesichts eines derartigen möglichen Szenarios die "Integrationsfunktion" und den "Repräsentationsgedanken" der Wahl gefährdet und deuteten damit die Notwendigkeit einer Korrektur an. Dogmatischer Ansatzpunkt könnte dabei die Fünf-Prozent-Hürde sein, die ohne die mildernde Wirkung der Grundmandatsklausel unverhältnismäßig sein könnte.

Keine Korrektur bei der Deckelung der Direktmandate

Am ausführlichsten wurde bei der mündlichen Verhandlung aber über den eigentlichen Kern der Wahlrechtsreform diskutiert, die Deckelung der Direktmandate. Keine Partei soll mehr Mandate erhalten, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustehen. Hat eine Partei mit den Erststimmen mehr Wahlkreise gewonnen, als ihr Mandate zustehen, so gehen die Wahlkreisgewinner mit den schwächsten Ergebnissen nun leer aus. Die Union sah darin das Demokratieprinzip gefährdet. Es könne nicht sein, dass ein örtlicher Wahlsieger am Ende leer ausgeht. Dadurch würden die Begriffe "Wahl" und "Stimme" entleert.

An diesem Punkt dürfte die Union aber wohl keinen Erfolg haben. Denn die geladenen politikwissenschaftlichen Sachverständigen machten in der mündlichen Verhandlung deutlich, dass die Wahl der Wahlkreisabgeordneten für die Wähler:innen keine große Bedeutung hat. Fast die Hälfte der Wähler:innen habe nach Jahrzehnten den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme noch immer nicht verstanden. Ihren direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten kennen die wenigsten. Wenn sie ein Anliegen haben, gehen sie eher zu einem Abgeordneten ihrer Parteipräferenz als zum direkt gewählten Vertreter des Wahlkreises. Die Integrationsfunktion der Wahl, die den Verfassungsrichter:innen wichtig ist, ist also offensichtlich nicht gefährdet, wenn es am Ende einige Wahlkreise ohne einen direkt gewählten Abgeordneten gibt.

Die Zwischenlösung

Sollte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vizepräsidentin Doris König am Dienstag also so entscheiden, wie es sich in der mündlichen Verhandlung abzeichnete, dann wäre zumindest der ersatzlose Wegfall der Grundmandatsklausel verfassungswidrig.

Der Bundestag hätte dann verschiedene Möglichkeiten, diesen Mangel zu beheben. So könnte er wieder eine Grundmandateklausel einführen, die sicherstellt, dass regional besonders stark verankerte Parteien auch im Bundestag vertreten sind. Wie viele Grundmandate hierfür erforderlich sein sollen, wäre die nächste Frage. Es ist sicher nicht verfassungsrechtlich geboten, dass bereits drei Grundmandate für den Einzug einer Partei in den Bundestag ausreichen. Aber wo läge dann das Gebotene? Bei 15 Mandaten? Oder bei 30?

Alternativ wurde in der Verhandlung auch eine Modifikation der Fünf-Prozent-Klausel diskutiert. So könnte die Hürde etwa auf drei Prozent abgesenkt werden. Oder die Sperrklausel wird regionalisiert. So könnte eine Partei mit allen ihr prozentual zustehenden Abgeordneten in den Bundestag einziehen, wenn sie in einem Bundesland die Fünf-Prozent-Klausel übersprungen hat. Oder in drei Bundesländern.

Da es viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, wird das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag sicher keine konkreten Vorgaben machen, sondern ihm genügend Zeit geben, eine Lösung zu beraten. Da im Wahlrecht ja meist alles mit allem zusammenhängt und es auch wünschenswert wäre, wenn sich sämtliche Fraktionen auf einen gemeinsamen Entwurf einigen, sind für diese Beratungen wohl mindestens zwei Jahre anzusetzen. Dieses neue Wahlrecht könnte dann frühestens bei der Bundestagswahl 2029 angewandt werden.

Linke dank Bundesverfassungsgericht erneut im Bundestag? 

Doch was gilt dann für die Bundestagswahl 2025, die unmittelbar bevorsteht? Die Parteien haben im Juni bereits mit der Aufstellung erster Wahlkreiskandidat:innen begonnen. Eine Neuregelung sollte daher möglichst schnell vorliegen und nicht allzu sehr von dem abweichen, was die Parteien kennen und worauf sie sich eingestellt haben.

Es spricht daher viel dafür, dass das Bundesverfassungsgericht hier durch eine Vollstreckungsanordnung gem. § 35 Bundesverfassungsgerichtsgesetz selbst entscheidet, wie 2025 gewählt werden soll. Eine Entscheidung des Bundestages wäre wohl erst im Herbst möglich, zu spät für die anstehende Wahl.

Das Bundesverfassungsgericht könnte dann z.B. auf die Fassung der Grundmandateklausel zurückgreifen, die noch eine Woche vor der Beschlussfassung im Bundestag im Gesetzentwurf der Ampel-Koalition stand. Damit würde im Grundsatz die frühere Grundmandateklausel beibehalten.

Im Klartext würde das bedeuten, dass eine Partei auch mit 4,8 Prozent oder mit gar nur 2,8 Prozent der Stimmen mit allen ihr prozentual zustehenden Abgeordneten vertreten wäre, wenn sie in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen holt.  

Sollte sich das Bundesverfassungsgericht für diese Lösung entscheiden (was eine reine Vermutung ist), dann wäre die Linke wohl am glücklichsten über das Urteil. Denn sie hätte dann noch einmal die Chance, mit drei Direktmandaten ihre Präsenz und Sichtbarkeit im Bundestag um vier Jahre zu verlängern. 

Zitiervorschlag

Wahlrechts-Entscheidung steht bevor: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55090 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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