Kurz vor der Sommerpause hat der Bundestag eine Flut von Gesetzen beschlossen. Für besonderen Unmut bei der Opposition sorgt neben einer StPO-Änderung auch eine erneute Erweiterung im IfSG, die die Fortgeltung von Corona-Verordnungen betrifft.
In seiner längsten Sitzung der auslaufenden Legislaturperiode, die erst nach mehr als 17 Stunden um 02.30 Uhr in der Nacht zum Freitag endete, hat der Bundestag eine Reihe von wichtigen Beschlüssen gefasst. Einige von ihnen sind hochumstritten und stießen bei der Opposition auf teilweise heftige Kritik.
Durchgesetzt hat die GroKo etwa entgegen vieler fachlicher Ratschläge, etwa den Empfehlungen des Deutschen Anwaltvereins (DAV), eine Reform des Wiederaufnahmerechts im Strafverfahren. Bei schwersten Straftaten wie Mord, Völkermord oder Kriegsverbrechen gilt künftig quasi ein "Freispruch unter Vorbehalt": Bereits Freigesprochenen kann nach der jetzt beschlossenen Änderung von § 362 Strafprozessordnung (StPO) ein zweites Mal der Prozess gemacht werden, wenn neue Beweise auftauchen. Wegen des Verbots der sogenannten Doppelbestrafung darf eigentlich niemand für dieselbe Tat mehrfach zur Verantwortung gezogen werden. Davon konnte bislang nur in eng begrenzten Ausnahmefällen abgewichen werden - etwa wenn der Freigesprochene später ein glaubwürdiges Geständnis ablegt. Die Liste der bisherigen Wiederaufnahmegründe wird nun um schwere Straftaten erweitert, die nicht verjähren können. Dazu gehören Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen eine Person.
Der DAV hatte bis zuletzt die Rechtspolitiker:innen der großen Koalition von der Änderung abbringen wollen und auf massive verfassungsrechtliche Bedenken hingewiesen: "Das Grundgesetz hat sich im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit eindeutig für die Rechtskraft entschieden", sagt Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV gegenüber LTO. "Das Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz verbietet nach allgemeiner Auffassung auch die Doppelverfolgung nach einem Freispruch. Für einen 'Freispruch light' unter dem Vorbehalt späterer besserer Erkenntnis gibt es insofern keinen Raum – und dies schon gar nicht rückwirkend."
CDU/CSU: StPO-Reform ist "Sieg der Gerechtigkeit"
Beim rechtspolitischen Sprecher der Union, Dr. Jan-Marco Luczak, ebenfalls Rechtsanwalt, lief diese Kritik indes ins Leere. Luczak bezeichnete die Reform in einer Erklärung stattdessen als "Sieg der Gerechtigkeit": "Freigesprochene Mörder bleiben bislang auch dann auf freiem Fuß, wenn ihre Täterschaft nachträglich aufgrund neuer Beweise mit hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte. Das erschüttert das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zutiefst und ist auch für die Angehörigen des Mordopfers unerträglich. Ein solcher, offensichtlich falscher Freispruch schafft keinen Rechtsfrieden", so Luczak. Es sei daher gerechtfertigt, die Rechtskraft eines Urteils unter engen Voraussetzungen zu durchbrechen, um solch außerordentliches Unrecht zu sühnen und materielle Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Kritik übte der CDU-Politiker bis zuletzt an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht: "Das SPD-Bundesjustizministerium hat sich dieser Initiative leider beharrlich verweigert. Deswegen haben wir das als Union selbst in die Hand genommen und einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Das sind wir den Opfern und den Angehörigen schuldig."
Ob sich die Neuregelung am Ende als verfassungswidrig erweist, bleibt abzuwarten. Der Tübinger Strafrechtslehrer Prof. Dr. Jörg Eisele hatte kürzlich im LTO-Interview darauf verweisen, dass das Bundesverfassungsgericht 1981 Weiterentwicklungen zum Grundsatz des Verbots der Doppelverfolgung nicht von vornherein ausgeschlossen habe.
IfSG-Änderung wegen neuer Virus-Mutanten
Neben dieser Reform sorgte auch eine eiligst und in der Öffentlichkeit fast unbemerkt gebliebene, an eine Reform des Stiftungsrechts angehängte Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) für viel Wirbel. Diese sieht u.a. vor, dass eine aufgrund des IfSG erlassene Rechtsverordnung auch noch bis zu einem Jahr nach der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verlängert und geändert werden kann. Nach dem insoweit neuen § 36 Abs. 12 S. 1 IfSG wird die Geltung einer Verordnung nach Abs. 8 S. 1 IfSG (Einreise nach Deutschland aus Risikogebieten) und Abs. 10 S. 1 IfSG (Beförderung) auf bis zu ein Jahr nach Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verlängert.
Mit anderen Worten: Corona-bedingte Einreisebeschränkungen können somit weiter greifen, auch wenn die pandemische Lage nationaler Tragweite ausläuft. Zu dieser Änderung hatte es in der Nacht sogar eine namentliche Abstimmung gegeben: Mit 412 Stimmen gegen 212 Stimmen bei zwei Enthaltungen stimmte der Bundestag für die Annahme dieser IfSG-Änderung.
Während die Oppositionsfraktionen einhellig die Änderung kritisierten, begründeten die GroKo-Fraktionen diese damit, dass auch nach Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Gefahr bestehe, dass insbesondere durch Einreisende die Krankheit, die zur Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite geführt hat, nach Deutschland eingetragen werde. Dies könne zu einer "erheblichen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit" führen. Neue Mutationen entstünden in Virusgenomen "fortlaufend" - je nach Ausprägung könnten sie zu einer leichteren Übertragbarkeit, schweren Krankheitsverläufen und eingeschränkter Wirksamkeit von entwickelten und zugelassenen Impfstoffen führen.
Auch nach Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite könnten neue Virusvarianten mit besorgniserregenden Eigenschaften in ausländischen Gebieten entstehen und von dort weiterverbreitet werden können. Es müsse möglich bleiben, dass gegen die Gefahr des Ausbruchs eines Infektionsgeschehens durch die Einschleppung von neuen Virusvarianten weiterhin die erforderlichen Vorkehrungen und Eindämmungsmaßnahmen (Anmelde-, (Test-)Nachweis- und Absonderungspflicht) sowie ein Beförderungsverbot getroffen werden können.
Opposition kritisiert IfSG-Ausweitung
Auf Kritik stieß diese Änderung bei Grünen, FDP, Linken und AfD: Anstatt pauschal die genannten infektionsschutzrechtlichen Beschränkungen für ein Jahr fortgelten zu lassen, bedürfe es einer Regelung, mit der die Maßnahmen an die konkrete Situation anknüpften, kritisierten etwa die Grünen in der abschließenden Beschlussempfehlung. Stattdessen könne auf die Prinzipien im Gefahrenabwehrrecht zurückgegriffen werden. Am Ende stimmten die Grünen der Änderung jedoch dennoch zu: "Weil man eine erneute Schließung des öffentlichen Lebens im Herbst vermeiden will", wie es hieß.
Kritischer als die Grünen reagierte dagegen die Linke: Sie erwartet nun, "dass die Gerichte sehr genau prüfen, ob sich eine Rechtsverordnung, die noch ein Jahr nach Aufhebung der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite hinaus Geltung hat, sich im Rahmen der Ermächtigungsgrundlage bewegt". Auch die FDP bemängelte, dass im Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen stiftungsrechtliche Regelungen mit Fragen des Infektionsschutzrechts vermischt würden. Die AfD nannte es "verfassungsrechtlich bedenklich, dass mit dem Änderungsantrag Vorschriften geändert würden, die mit dem Gegenstand des Gesetzes, auf das der Änderungsantrag sich grundsätzlich beziehe, dem Ziel der Vereinheitlichung des Stiftungsrechts, nichts zu tun hätten."
Inhaltlich wenig Bauchschmerzen mit der IfSG-Änderung hat der Augsburger Staatsrechtler Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger: "Auch nach Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, deren Fortbestand spätestens alle drei Monate festzustellen ist, kann das Bedürfnis nach einzelnen Regelungen zur Pandemiebekämpfung bestehen, etwa im Bereich von Regelungen zur Einreise angesichts eines entsprechenden Infektionsgeschehens im Ausland (z.B. Anmelde-, Absonderungs- oder Testpflicht)", sagte er im Gespräch mit LTO.*
Die eigentliche Reform des Stiftungsrechts verschafft unterdessen den mehr als 23.000 Stiftungen in Deutschland einen neuen Rechtsrahmen. Die teils unterschiedlichen Regelungen der Bundesländer werden vereinheitlicht und im Bürgerlichen Gesetzbuch zusammengeführt. Damit soll auch die Restitution von NS-Raubkunst und Kolonialobjekten aus Stiftungsbesitz vereinfacht werden. Mit der Reform wird nämlich klargestellt, dass Stiftungen an der Rückgabe ihres Kulturguts nicht dadurch gehindert werden, dass es ein Teil des zu erhaltenden Stiftungsvermögens ist. Der Bundesrat stimmte dieser Reform wie auch den Änderungen im IfSG am Freitag zu.
Änderung Klimaschutzgesetz als Reaktion auf BVerfG-Urteil
Weiter beschloss der Bundestag auch ein neues Klimaschutzgesetz. Verankert wurde das nationale Ziel, bis 2045 treibhausgasneutral zu werden - also nur noch so viele Treibhausgase auszustoßen wie sie wieder gebunden werden können. Ursprünglich hatte man sich das erst bis 2050 vorgenommen. Hochgeschraubt wird auch das Emissionsziel bis 2030. Deutschland soll nun bis dahin seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um mindestens 65 Prozent senken. Das bislang geltende Gesetz sah mindestens 55 Prozent vor. Auch neue Ziele über 2030 hinaus legt das geänderte Gesetz fest. Demnach soll 2040 bereits ein Rückgang des klimaschädlichen Ausstoßes um 88 Prozent erreicht sein.
Nötig wurde die Gesetzesänderung wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte das bislang geltende Recht Ende April für teilweise verfassungswidrig erklärt. Die Richter trugen der Bundesregierung auf, die Emissionsziele nach 2030 näher zu definieren, um die Freiheit künftiger Generationen nicht durch klimabedingte Einschränkungen zu gefährden.
Weiter wurde vom Bundestag eine Mietspiegelpflicht in größeren Städten beschlossen: Städte und Gemeinden mit mehr als 50.000 Einwohnern müssen künftig einen Mietspiegel erstellen. Damit sollen Mieter:innen besser vor überzogenen Mieterhöhungen geschützt werden. In mehr als 80 der 200 größten deutschen Städte gebe es derzeit keinen gültigen Mietspiegel, sagte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner. Ohne Mietspiegel sei die Mietpreisbremse aber "faktisch unwirksam".
Härtere Strafen für Extremisten und Stalker
Strengere Regeln gelten künftig in Sachen Extremismus, Missbrauch und Zwangsprostitution: Fahnen der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas werden in Deutschland ebenso verboten wie sogenannte Feindeslisten mit Namen und Daten politischer Gegner. Bislang musste ein Vereinsverbot vorliegen, um die Verwendung von Kennzeichen einer bestimmten Organisation unter Strafe zu stellen. Jetzt reicht es, dass die Organisation auf der EU-Terrorliste steht - wie etwa die Hamas oder die kurdische PKK.
Ausdrücklich verboten ist in Zukunft auch das Verbreitensogenannter Feindeslisten, wie sie gelegentlich in rechts- und linksextremen Kreisen kursieren. Wer personenbezogene Daten verbreitet und die Betroffenen damit in Gefahr bringt, muss bis zu drei Jahre in Haft.
Härter bestraft werden darüber hinaus verhetzende Beleidigungen gegen Juden und Muslimen sowie gegen Homosexuelle und Behinderte. Herabwürdigende Briefe oder Mails gelten bislang nicht als Volksverhetzung, weil sie nicht öffentlich verbreitet werden - diese Lücke im Strafrecht wurde nun geschlossen.
Ferner wurden Verbreitung und Besitz von Anleitungen zum sexuellen Kindesmissbrauch zur Straftat gemacht. Wer solche Texte aus dem Internet oder geschlossenen Chatgruppen runterlädt, muss mit Haft bis zu zwei Jahren rechnen, für deren Verbreitung drohen sogar drei Jahre. Zur Bekämpfung der Zwangsprostitution wird darüber hinaus die "Freier-Strafbarkeit" ausgeweitet: Künftig machen sich Freier strafbar, wenn sie offensichtliche Anzeichen für die Zwangslage einer Prostituierten - etwa Verletzungen - ignorieren.
Beschlossen wurde außerdem ein verschärftes Anti-Stalking-Gesetz: Wer einer anderen Person regelmäßig auflauert oder sie wiederholt belästigt, soll künftig schneller vor Gericht landen. Um das sogenannte Stalking konsequenter verfolgen zu können, hat der Bundestag die Strafbarkeitsschwelle gesenkt. Bisher musste Tätern "beharrliches" Nachstellungsverhalten nachgewiesen werden, welches das Leben des Opfers "schwerwiegend" beeinträchtigt. In Zukunft reicht es schon aus, jemanden "wiederholt" zu belästigen und dessen Leben damit "nicht unerheblich" zu beeinträchtigen.
Verschärft wird auch das Strafmaß: Konnten bisher wegen Stalkings höchstens drei Jahre Gefängnis verhängt werden, sind nun in besonders schweren Fällen bis zu fünf Jahre möglich. Darüber hinaus steht nun auch "Cyberstalking" ausdrücklich unter Strafe - etwa wenn jemand durch spezielle Apps auf Social-Media-Konten oder Bewegungsdaten seines Opfers zugreift.
Kürzere Laufzeiten für Handy- und Fitnessstudio-Verträge
Weiter beschloss der Bundestag auch ein "Gesetz für faire Verbraucherverträge". Darin werden u.a. die Vertragslaufzeiten für Handytarife, Streamingdienste oder Fitnessstudios gesetzlich beschränkt, um den Wechsel zu einem anderen Anbieter zu erleichtern. Die neue Regelung soll Verbraucher:innen auch die Kündigung ihrer Verträge erleichtern. "Lange Vertragslaufzeiten und lange Kündigungsfristen beschränken die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher und hindern sie an einem Wechsel zu attraktiveren und preisgünstigeren Angeboten", erklärte Justizministerin Christine Lambrecht (SPD).
Vor einer grundsätzlichen Verkürzung der Vertragslaufzeiten auf ein Jahr, die in dem Gesetzgebungsverfahren zwischenzeitlich erwogen wurde, nahm die schwarz-rote Koalition aber Abstand.* Wie schon nach geltendem Recht kann eine Mindestvertragslaufzeit von bis zu zwei Jahren grundsätzlich auch in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart werden, ohne dies an weitere Voraussetzungen zu binden. Zum Schutz der Verbraucher würden aber strengere Regelungen für die automatische Verlängerung von Verträgen getroffen, erklärte Luczak. Eine automatische Verlängerung von befristeten Verträgen soll demnach nur noch sehr eingeschränkt möglich sein.
Schließlich sind Verträge, die über eine Website abgeschlossen wurden, künftig auch online kündbar - über eine so genannte Kündigungsschaltfläche, die leicht zugänglich und gut sichtbar auf der Internetseite des Vertragspartners platziert sein muss.
Mit Material von dpa
* Anm. der Red.: Ergänzung bzw. Präzisierung am Tag der Veröffentlichung, 15.39 Uhr: U.a. hieß es in einer früheren Version, dass Verbraucherverträge auf eine Laufzeit von einem Jahr beschränkt werden.
Beschlüsse nach Marathonsitzung im Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 25.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45307 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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