Im Abschalten der Abgasreinigung von Diesel-Pkw bei kälteren Temperaturen sah der BGH keine vorsätzliche Schädigung von Kunden, doch der EuGH setzte andere Maßstäbe. Jetzt urteilt der BGH erneut. Es geht um Millionen Autos und viel Geld.
Die Öffentlichkeit hat den Dieselskandal weitgehend abgehakt. Auch Medien sind der Thematik eher müde geworden. Doch die Relevanz des Themas könnte nun ihren Höhepunkt erreichen: Nicht nur hat das VG Schleswig vor Kurzem entschieden, dass das Herunterfahren der Abgasreinigung bei in Deutschland normal-kalten Temperaturen illegal ist, wovon Millionen Dieselfahrzeuge betroffen sind. Nach einem Urteil des EuGH muss sich der BGH zudem erneut mit der Frage beschäftigen, ob es auch Schadensersatz für Kunden gibt, die von derartigen Thermofenster in Dieselautos betroffen sind.
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BGH bisher: Kein Schadensersatz bei Thermofenstern
Nach der bisherigen BGH-Rechtsprechung besteht nur dann Anspruch auf Schadensersatz, wenn Hersteller Behörden im Zulassungstest getäuscht haben, indem sie Abschalteinrichtungen verschwiegen. Beispiel ist das BGH-Urteil zum Skandalmotor EA189 von VW. Die Software der Motorsteuerung erkannte, wann der Wagen gerade beim Zulassungstest ist, und schaltete nur dann in einen sauberen Modus. Auf der Straße stieß er dann mehr Abgase aus.
Nicht hingegen erkannte der BGH einen Schadensersatzanspruch im Falle der sogenannten Thermofenster an, die dazu führen, dass selbst bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen die Abgasreinigung heruntergefahren wird, und die damit im Ergebnis die Gesundheit der Bürger vergleichbar schädigen. Die BGH-Richter stellten sich auf den Standpunkt, hierin liege allenfalls ein fahrlässiger Rechtsverstoß, auch da die Rechtslage unklar sei. Für einen Schadensersatzanspruch gegen Hersteller sei aber eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung erforderlich. Auch Auffassungen anderer Landgerichte führten nicht dazu, dass der BGH die Fragen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegte, er ging vielmehr von einem "acte clair", also einer eindeutigen Rechtslage aus.
EuGH: Fahrlässige illegale Abschalteinrichtung genügt
Ein großer Irrtum: Durch eine direkte Vorlage des Landgerichts Ravensburg befasste sich der EuGH doch noch mit der Thematik und bejahte die Möglichkeit einer Schadensersatzhaftung auch bei fahrlässigem Rechtsverstoß. Rechtlicher Hintergrund: Schadensersatz bei fahrlässigem Handeln kommt regelmäßig nur dann in Betracht, wenn eine Norm, gegen die verstoßen wird, drittschützend ist. Drittschützend heißt, dass diese Norm auch dafür da ist, Einzelinteressen, etwa von Verbrauchern, zu schützen. Anders als der BGH bejaht der EuGH den Drittschutz der unionsrechtlichen Vorschriften zu Abschalteinrichtungen. Das Luxemburger Gericht stellt dabei auf die Übereinstimmungserklärung ab, die jeder Autokäufer vom Hersteller erhält und in der dem Käufer die rechtskonforme Produktion des Wagens zugesichert werde.
Der BGH hatte – seitdem klar war, dass in Luxemburg beim EuGH die Rechtslage anders gesehen werden könnte - sämtliche Dieselverfahren zu dieser Frage auf Eis gelegt. Dort sind mehr als 1.900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden zu Dieselthemen anhängig.
Fahrlässiges Handeln der Hersteller?
Der BGH wird nun zu prüfen haben bzw. unterinstanzlichen Gerichten die Prüfung aufgeben, ob die Hersteller zumindest fahrlässig illegale Abschalteinrichtungen verbaut haben. Dass Thermofenster, also Abschalten der Abgasreinigung bei bestimmten Temperaturen, regelmäßig illegale Abschalteinrichtungen nach Art. 5 Abs. 2 EG-Verordnung 715/2007 (zur Typgenehmigung der Euro-5- und Euro-6-Schadstoffklassen) darstellen, ist klare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Auch das VG Schleswig hat VW-Thermofenster als illegal eingeordnet.
Die Fahrlässigkeit des Rechtsverstoßes könnte vor dem Hintergrund, dass Abgaswerte im Realbetrieb gerissen werden obwohl bessere Abgastechnik zur Verfügung stand und in vielen Fällen in den USA auch eingebaut wurde, schwer zu verneinen sein. Insoweit hätten Hersteller auf Nummer sicher gehen können, hätten sie Abgasreinigungssysteme, die dem aktuellen Stand der Technik entsprechen, eingebaut. Genau dies unterblieb – aus Kostengründen.
VW, Mercedes und Co. könnten sich allerdings auf einen Passus in der EuGH-Entscheidung beziehen, nach dem eine Pflichtverletzung der Hersteller dann vorliegt, wenn gegenüber der zuständigen Behörde - in Deutschland ist das das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) - eine Abschalteinrichtung verschwiegen wurde. Dies ist bei Thermofenstern nicht der Fall, da das KBA über diese wohl informiert wurden. Doch liest man den entsprechenden Passus im EuGH-Urteil weiter, wird deutlich, dass der EuGH danach fragt, ob die Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung "eine Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit hervorrufen (kann), das Fahrzeug anzumelden, zu verkaufen oder in Betrieb zu nehmen."
Rechtsprechung des VG Schleswig führt zu realer Schadensgefahr
Stellt man allein darauf ab, dass die zuständige Behörde, also das KBA, die illegalen Thermofenster bis heute für zulässig erachtet, würden man eine solche "Unsicherheit" möglicherweise noch verneinen können.
Doch diese Unsicherheit kann auch durch die Judikative entstehen. Das VG Schleswig entschied erst im Februar, dass VW-Thermofenster, die die Abgasreinigung bei unter zwölf Grad Celsius herunterregeln, illegal auf europäischen Straßen unterwegs sind. Es droht die Betriebsuntersagung. Die gemeinsame Ansicht zwischen Behörden und Autoherstellern, alles habe seine Ordnung, kann also trotzdem faktisch zu einem Schaden beim Käufer führen.
Auch der BGH stellte im Mai 2020 in seiner Entscheidung zum Schadensersatz gegen VW wegen der illegalen Abschalteinrichtung im VW-Modell EA 189 auf rechtliche Risiken einer Betriebsuntersagung ab. Dieses rechtliche Risiko ist mit der Entscheidung des VG Schleswig nunmehr real geworden: Wenn sein Urteil und Folgeentscheidungen rechtkräftig werden, müssten Millionen Fahrzeuge nachgerüstet oder stillgelegt werden.
Mögliche Folgen des Urteils
Entsprechend hoch könnte die Motivation von Dieselkunden sein, Schadensersatzansprüche gegen Hersteller einzuklagen. Darauf hoffen zumindest die Verbraucheranwälte. Diese sitzen in den Startlöchern, um nach einer – für sie etwaig positiven BGH-Entscheidung – eine neue Klagewelle gegen die Hersteller einzuleiten. Die Verjährungsvorschriften stehen dem wegen veränderter höchstrichterlicher Rechtsprechung womöglich nicht im Wege.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter haben einen VW-, einen Mercedes- und einen Audi-Fall zur Verhandlung ausgewählt. Die Verhandlungen beginnt um 12:00. Ob bereits am Montag ein Urteil verkündet wird, steht noch nicht fest.
BGH verhandelt neu zu Schadensersatz bei Thermofenstern: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51716 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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