Während die Politik sich nur um steuerliche Ausnahmeregeln im Interesse ihrer Klientel kümmert, hat die Finanzverwaltung die Rolle des Gesetzgebers im Steuerrecht übernommen. Bundestag und Bundesrat nicken nur noch ab, was die Exekutive diktiert und die Kontrolle durch die Rechtsprechung wird systematisch ausgehebelt. Ein Kommentar von Wolfgang Blumers.
Das Steuerrecht ist Eingriffsrecht. Verfassungsrechtlich setzt es daher klare Gewaltenteilung voraus. Das Parlament müsste das Steuerrecht nach ordnungspolitischen Regeln konzipieren, das die Exekutive dann mit Hilfe der Finanzverwaltung umzusetzen hätte. Sie wäre dabei uneingeschränkt der Kontrolle durch die Finanzrechtsprechung unterworfen.
Bei uns aber macht die Spitze der Finanzverwaltung das Steuerrecht ohne ordnungspolitische Vorgaben und ausreichende Kontrolle durch die Politik. Gesetzgeber und Rechtsprechung haben nur noch beschränkten Einfluss.
Die Politik in ihrer Rolle als Spitze der Exekutive nutzt das Steuerrecht vielmehr nur als wirtschafts-, sozial- und kontrollpolitisches Leitungsinstrument, wenn es um die opportune Befriedigung von Gruppeninteressen geht. Getrieben ist sie regelmäßig durch wahlpolitische Überlegungen. Dies ist der wesentliche Grund für die vielen offenen und verdeckten Subventionen, die das deutsche Steuerrecht ineffektiv und ungerecht machen. Denn viele Ausnahmen setzen hohe Steuersätze voraus.
Gesetzgeber erfasst Tragweite der Steuergesetze nicht
Der Gesetzgeber ist längst in einem solchen Maß von der Spitze der Finanzverwaltung instrumentalisiert, dass man Zweifel an dem verfassungsmäßigen Zustandekommen der Steuergesetze haben muss. Das Bundesfinanzministerium konzipiert die Gesetze und legt sie dem Finanzausschuss mit seinen wenigen Mitgliedern aus den Fraktionen vor, ohne dass diese jeweils die Tragweite der Entwurfsregeln zutreffend erfassen.
Die Finanzverwaltung geht mit diesem Phänomen äußerst locker um. Wenn sie nicht wie der Gesetzgeber auftritt, stellt sie ihre Aktivität als Beratung des Gesetzgebers dar. Tatsächlich hat sie die Aufgaben des Gesetzgebers usurpiert und beschränkt sich auf Vorlagen zum Finanzausschuss des Bundestages. Das Plenum selbst nickt den Entwurf nur noch ab, ohne ihn inhaltlich nachzuvollziehen. Die gegenseitige Kontrolle von Gesetzgebung und Verwaltung ist also nicht mehr existent.
Die eigentliche Kontrolle der Finanzverwaltung hätte allerdings die Finanzrechtsprechung als kompetenter Arm der Jurisdiktion vorzunehmen. Der verfassungsrechtlich garantierte Rechtschutz des Steuerbürgers ist aber nur noch in rudimentären Resten vorhanden. Das liegt primär an der zunehmenden Flut von Steuerstreitigkeiten in Folge der rasant zunehmenden Steuerregeln und der schnell wachsenden Komplexität der Materie. Dieser Flut steht eine zahlenmäßig sehr beschränkte Richterschaft gegenüber, die in zwei Instanzen über immer komplexere Rechtsfragen entscheiden muss, so dass das Verfahren in einer Instanz zwei bis sechs und zwei Instanzen vier bis zehn Jahre dauert. Gesetze zur Entlastung der Gerichte doktern nur an den Symptomen herum, indem sie den Steuerrechtschutz einschränken.
Bundesfinanzministerium hebelt Rechtsprechung aus
Zusätzlich beantwortet das Bundesfinanzministerium Entscheidungen des Bundesfinanzhofs mit rechtsstaatlich äußerst fragwürdigen "Nichtanwendungs-Erlassen", wenn ihm eine Entscheidung nicht genehm ist. Wiederholt der BFH (häufig erst nach längerer Zeit) seine Rechtsauffassung in einer neuen Entscheidung, dann reagiert die Finanzverwaltung im nächsten Jahressteuergesetz, das die aktuellen Änderungswünsche der Verwaltung aufarbeitet, mit einer rechtsprechungsbrechenden Gesetzesänderung.
Hatte der Koalitionsvertrag der regierenden schwarz-gelben Koalition 2009 noch eine Beseitigung dieser unerfreulichen Entwicklung vorgesehen, so verfährt die Verwaltung dennoch längst wieder nach altem Muster. Die von der Wissenschaft gepriesene neue Zeit für ein gerechteres Steuerrecht ist allenfalls auf dem Papier angebrochen. Und wie leicht sich die Spitze der Finanzverwaltung inzwischen mit dieser Praxis als Gesetzgeber tut, zeigt beispielhaft das Jahressteuergesetz 2010, das eine Gesetzesänderung mit den Worten begründet: "Die Änderung (…) stellt die bisherige Verwaltungsauffassung klar."
Das deutsche Steueraufkommen war noch nie so hoch wie heute. Und trotzdem kommt die Politik nicht ohne zusätzliche Neuverschuldung aus. Haushalten im Sinne von Sparen ist nicht mehr angesagt. Während politische Parteien über die Erhöhung der Ertragssteuersätze und neue Substanzsteuern nachdenken, sucht die Verwaltung (unkontrolliert) den Steuerzugriff immer mehr auszuweiten. Ein solches Steuerrecht wird zunehmend als ungerecht empfunden und man versucht ihm auszuweichen. Die Dummen tun dies durch Steuerhinterziehung, die Intelligenten durch legale Steuerverlagerung. Die so entstehenden Mindereinnahmen führen zu einem weit größeren Steuerschaden als die Mehreinnahmen, die die Politik und Verwaltung durch ihr Handeln anstreben.
Prof. Dr. Wolfgang Blumers ist Seniorpartner der Sozietät Blumers & Partner, Stuttgart, und ordentlicher Professor für Steuerrecht. Sein spezielles Interesse gilt der Umwandlung von Unternehmen vor allem in internationale Strukturen.
Brüchige Gewaltenteilung: . In: Legal Tribune Online, 23.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5742 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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