Das Fach, das er in London lehrt, wird vermutlich bald kein Pflichtfach mehr sein. Von Volksabstimmungen hält er nicht viel, glaubte aber bis zuletzt an die Vernunft der Briten. Ein Gespräch mit dem deutschen Europarechtler Alexander Türk.
LTO: Herr Professor Türk, wie haben Sie als Deutscher, der seit 20 Jahren in Großbritannien lebt, den vergangenen Freitag erlebt?
Türk: Es war ein Schock für mich. Am Donnerstagabend ging ich, wie wohl die meisten in Großbritannien, noch schlafen in dem Glauben, alle Zeichen stünden auf Remain. Den Umfragen vertraute ich sowieso nicht, weil die schon beim letzten Mal falsch waren; diesmal lagen aber leider auch die Wettbüros daneben, die Remain zum Ende hin als weitaus wahrscheinlicher eingestuft hatten. Trotz der emotionalen Debatte war man davon ausgegangen, dass der Verstand sich durchsetzen würde. Leider hat er das nicht.
LTO: Wie war die Stimmung am King‘s College in London, wo Sie Europarecht unterrichten?
Türk: Praktisch gesehen war es ein Tag des Krisenmanagements: Da der Dekan abwesend und ich sein Vertreter war, mussten wir Mails an Studenten und Partneruniversitäten verschicken, dass sich vorerst nichts ändern wird und niemand im Moment Angst haben muss.
Aber es war vor allem ein emotionaler Tag. Am Freitagmorgen haben sich einige Kollegen bei mir als Deutschem gar entschuldigt - für ihre dämlichen Landsleute sozusagen. Die Stimmung war ganz überwiegend sehr gedrückt, alle schienen sich zu fragen 'Oh my god, what have we done'?
LTO: Sie sprechen es an: Vor allem die jungen Menschen schienen erst nach dem Referendum wach zu werden. Seitdem schimpfen sie über die Alten, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben und ihnen damit ihre Zukunft geraubt hätten. Es gibt sogar eine Online-Petition für eine Wiederholung der Abstimmung mit über drei Millionen Unterschriften. Beim ersten Durchgang war hingegen gerade die Beteiligung der jüngeren Stimmberechtigten am niedrigsten.
Türk: Auch ich habe diese Stimmung bei vielen jungen Leuten feststellen müssen – allerdings ist ihnen das ein bisschen zu spät eingefallen. Man hat ein eigentlich bekanntes Phänomen beim Brexit-Referendum nur sehr deutlich gesehen: Demokratie funktioniert mit Mehrheiten. Um die zu erzeugen, muss man zur Abstimmung auch hingehen. Aber ich sehe das positiv: Ich bin mir sicher, dass viele junge Briten aus dieser Demokratie-Erfahrung sehr viel gelernt haben.
"Volksabstimmungen sind kein gutes Mittel zur Entscheidungsfindung"
LTO: Ganz Europa diskutiert seit dem Referendum über direkte Demokratie und Volksabstimmungen. Wie stehen Sie dazu – und hat der Brexit ihre Meinung verändert?
Türk: Nein, der Brexit hat die Problematik von Volksabstimmungen nur sehr deutlich gezeigt. Ich sehe das ähnlich wie das deutsche Grundgesetz: Ich halte Volksabstimmungen nicht für ein gutes Mittel der Entscheidungsfindung. Der englischen Demokratie sind sie sehr fern. Souverän ist nach britischem Recht das Parlament, nicht das Volk. .
Wir sind nicht die Schweiz, Großbritannien ist groß und hat viele unterschiedliche Strömungen. Da ist es keine gute Idee, sich in London auf dem Marktplatz zur Abstimmung zu treffen. Beim Brexit hat sich das perfekt gezeigt: Die zu beantwortenden Fragen sind zu komplex – so sehr, dass die meisten Leute nicht einmal verstehen, wie komplex sie sind. Und die Frage "Ja oder Nein" reicht schlicht nicht aus, um zu klären, wie das Verhältnis des Königsreichs zu Europa in Zukunft aussehen soll.
LTO: Glauben Sie, dass die Verhandlungen zu diesem Verhältnis nun bald anlaufen werden? Oder halten Sie ein zweites Referendum für denkbar?
Türk: Eigentlich nicht, niemand denkt ernsthaft über ein zweites Referendum nach. Es gibt zwar keine rechtliche Verpflichtung des Parlaments, das Ergebnis der Abstimmung umzusetzen. Cameron - und mit ihm viele Briten - glaubte, er würde erst einen guten Deal mit der EU und dann die Volksabstimmung mit einem Remain hinbekommen. Nun ist es anders gekommen, aber die Briten werden das Ergebnis umsetzen - denn das ist der Wille des Volkes.
"Nur ein Plan könnte die Märkte beruhigen – aber ich glaube, es gibt keinen"
LTO: Wie denn - und vor allem: wann? Kommissionspräsident Juncker hat zunächst auf eine sehr rasche Antragstellung gedrängt, der europäische Rat hat Großbritannien nun eine Frist bis September gesetzt.
Türk: Es gibt keine gesetzliche Frist für den Austrittsantrag. Rechtlich gibt es auch keine Mittel, um Großbritannien zu zwingen, den Antrag schnell zu stellen. Aber man kann, was ja auch bereits geschieht, politischen Druck ausüben.
Eine schnelle Antragstellung legen auch die unruhigen Märkte nahe: Die Talfahrt des Pfunds kann die Politik vermutlich nur dadurch stoppen, dass sie einen Plan vorlegt. Je länger sie das hinaus zögert, desto schlimmer wird die wirtschaftliche Situation.
LTO: Gibt es denn einen Plan?
Türk: Im Moment nicht, denke ich. In der Kampagne hieß es, man wolle dem Europäischen Wirtschafsraum nicht beitreten, Großbritannien sei groß genug und schaffe es allein in der Welt. Nach der Kampagne wollte man den gemeinsamen Markt dann doch, aber die Immigration nicht. Seitdem scheint Boris Johnson sich darüber hinaus mit sich selbst uneins, ob Kontrolle der Einwanderung gleichzusetzen ist mit deren Reduktion.
Pia Lorenz, Europarechtler nach dem Brexit-Referendum: . In: Legal Tribune Online, 30.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19844 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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