Gerichte müssen Entscheidungen in Zivilsachen in anonymisierter Form herausgeben. Mit einem aktuellen Urteil formuliert der BGH sogar eine Pflicht der Justiz zur Publikation. Ausnahmen sind nun kaum mehr begründbar.
"Der Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen ist […] öffentlich. Gerichtsentscheidungen unterliegen nicht der Geheimhaltung, sofern nicht ausnahmsweise unabweisbare höhere Interessen die Unterrichtung der Allgemeinheit oder einer einzelnen Person verbieten. Ein Verfahrensbeteiligter kann daher grundsätzlich nicht ausschließen, dass die ihn betreffende Entscheidung auch veröffentlicht wird."
Diese Worte stammen nicht etwa aus dem bemerkenswerten aktuellen Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen. Sie sind vielmehr ein Zitat aus einem Urteil des Bundespatentgerichts aus dem Jahr 1992 (GRUR 1992, 53, 54). Dennoch müssen sich vor allem Journalisten immer wieder mit Gerichten auseinandersetzen, die sich weigern, ihnen Abschriften von Urteilen, selbst in geschwärzter Form, auszuhändigen. So waren etwa über sieben Monate zähen Ringens notwendig, bis das Oberlandesgericht (OLG) München das Strafurteil gegen Uli Hoeneß (mit zahlreichen Schwärzungen) zugänglich machte.
Damit dürfte nun endgültig Schluss sein. Nach dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) findet nun auch der BGH deutliche Worte: Gerichte müssen ihre zivilrechtlichen Entscheidungen in aller Regel zumindest anonymisiert veröffentlichen. Diese Weitergabe von Entscheidungsabschriften an Dritte ist Teil der öffentlichen Aufgabe der Justiz, Rechtsprechung zu veröffentlichen. Die Regeln für die Akteneinsicht, speziell das Erfordernis eines rechtlichen Interesses (§ 299 Zivilprozessordnung), sind nicht anzuwenden, entschied der Bundesgerichtshof mit einem jetzt bekannt gewordenen Urteil (v. 05.04.2017, Az. IV AR (VZ) 2/16).
Anspruch auf anonymisierte Abschrift faktisch voraussetzungslos
Es waren nicht etwa Journalisten, die vom Landgericht (LG) Frankfurt die Abschrift eines Hinweisbeschlusses begehrt hatten, sondern Anwälte. Der Hinweisbeschluss war in einem Verfahren wegen fehlerhafter Anlageberatung ergangen und hatte die erstinstanzlich unterlegene Bank veranlasst, ihre Berufung zurückzuziehen. Anwälte, die an dem Verfahren nicht beteiligt gewesen waren, beantragten Akteneinsicht, hilfsweise die Übersendung einer Kopie des Beschlusses, weil sie in ähnlichen Fällen für Mandanten tätig waren. Akteneinsicht bekamen sie nicht, die hilfsweise begehrte anonymisierte Urteilsabschrift wurde ihnen jedoch erteilt – zu Recht, wie nun der BGH auf eine Beschwerde der Bank hin urteilte.
Mit der Akteneinsicht sei die Überlassung einer geschwärzten Abschrift nämlich nicht vergleichbar, so der Senat. Letztere greife nicht in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten ein, da sie keine Namen und ggf. andere, individualisierbar machende Bestandteile enthalte.
Damit ein interessierter Bürger eine geschwärzte Gerichtsentscheidung erhalte, müsse er daher nicht nur geringere Anforderungen als für die Akteneinsicht erfüllen, sondern schlicht gar keine.
Der Senat bekräftigt die Rechtsprechung des BVerfG und stellt klar, dass das auch für Urteile und Beschlüsse gilt, die noch nicht rechtskräftig sind. Und er entwickelt die Vorgaben der Verfassungsrichter weiter: Auch Entscheidungen - wie der hier streitige Hinweisbeschluss -, die den Prozess nicht beenden, also auch nicht rechtskraftfähig sind und womöglich nicht einmal öffentlich verkündet werden, muss die Justiz in aller Regel herausgeben.
Medienrechtler: Entscheidung auf Straf- und Verwaltungsgerichte übertragbar
Ausnahmen von dieser Regel fasst der IV. Senat eng: Zwar sei es denkbar, dass ausnahmsweise Rechte der Parteien eine solche anonymisierte Herausgabe verhinderten. Als milderes Mittel seien dann über die Anonymisierung hinaus Passagen zu schwärzen; nur "im äußersten Fall" dürfe keine geschwärzte Abschrift herausgegeben werden. Ein solcher äußerster Fall soll nach Ansicht der Karlsruher Richter ausdrücklich nicht schon dann vorliegen, wenn ein mit dem Fall Vertrauter trotz Schwärzungen feststellen könnte, um wen es geht. Vielmehr könnten nur "unabweisbare höhere Interessen" es rechtfertigen, ausnahmsweise keine anonymisierte Urteilabschrift herauszugeben. Und die müssten, so der Senat, von den Parteien schon im Ausgangsverfahren geltend gemacht werden.
Für Martin W. Huff setzt der BGH mit dieser klaren Definition eines faktisch voraussetzungslosen Anspruchs die Linie der Transparenz bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen fort, die sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht begonnen haben. "Der Bürger und alle anderen Interessierten haben einen Anspruch darauf, gerichtliche Entscheidungen in anonymisierter Form zu erhalten, damit sie sich mit der Rechtsprechung auseinandersetzen können. Der Versuch der Bank, dies zu verhindern, ist zu Recht gescheitert."
Der Presse- und Medienrechtler hält es für nicht nur möglich, sondern sogar für zwingend, die Entscheidung auch auf andere Rechtsgebiete und Gerichtsbarkeiten anzuwenden. "Die vom BGH aufgestellten Grundsätze sind eins zu eins übertragbar. Auch in Strafsachen ist die Herausgabe einer geschwärzten Urteilsabschrift nicht nach den Regeln der Akteneinsicht zu beurteilen. Sie verletzt niemandes Rechte –und auch gegenüber Verwaltungsgerichten kann sich nun jeder auf die Entscheidung des BGH berufen, wenn er Informationen über ein Bauplanungsverfahren oder die Erteilung einer Gaststättenerlaubnis haben möchte".
Pia Lorenz, Machtwort vom BGH: . In: Legal Tribune Online, 20.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22992 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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