Am BGH zeigten sich am Mittwoch ungewöhnliche Bilder: voller Saal, eine Frau ohne Schuhe und ein Richter wegen Rechtsbeugung auf der Anklagebank – es ging um den Familienrichter vom AG Weimar. Er beteuert nach wie vor seine Unschuld.
Schon eine Stunde vor Beginn der Verhandlung ist die Schlange vor dem ersten Drehkreuz am Bundesgerichtshof (BGH) gut 15 Meter lang. Auf dem Parkplatz steht ein Auto mit einem auf dem Dach montierten Kreuz, die Seiten und die Motorhaube des Kleinwagens sind beschriftet: "Jesus lebt", "Jesus siegt" und "Freiheit für Richter D.". Anhänger des einstigen Familienrichters am Amtsgericht (AG) in Weimar haben sich eingefunden. Der 2. Strafsenat überprüfte an diesem Mittwoch die Verurteilung des suspendierten Thüringer Richters auf Rechtsfehler: Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung hatten Revision eingelegt (Az. 2 StR 54/24).
Vor gut einem Jahr hatte das Landgericht (LG) Erfurt das Urteil gegen den Mann gesprochen. Er sei der Rechtsbeugung schuldig, § 339 Strafgesetzbuch (StGB). Zwei Jahre Freiheitsstrafe sprach das Gericht aus, die Vollstreckung setzte es zur Bewährung aus. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass D. als Richter in der Corona-Pandemie die Schutzmaßnahmen für alle Schüler:innen an zwei Schulen für beendet erklärt und sich dabei willkürlich und bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hatte. Der BGH überprüft nur, ob das LG zuvor das Recht richtig angewendet hat, eine Beweiserhebung erfolgt in der Revision nicht mehr.
Zuschauer barfuß und auf Campingstühlen
Angesetzt war der Beginn der Verhandlung auf 10.30 Uhr. Doch es dauerte, alle Interessierten zu kontrollieren. Die Justizbediensteten bauten eine zusätzliche Stuhlreihe im Saal auf, öffneten die Tribüne. Zwischenzeitlich rechneten einige nicht mehr damit, noch ins Gericht hineinzukommen. Drei Personen setzten sich draußen auf Plastikstühlen vor die tiefen Fenster des Saals, wollten zumindest von außen ihre Solidarität bekunden. Dort verbleiben durften sie nicht.
Diese und weitere Neuigkeiten machten schnell die Runde unter denen, die es reingeschafft hatten: Der Ausweis der Lebensgefährtin von Richter D., eine Kriminalbeamtin aus Thüringen, ist abgelaufen. Persönliche Versicherungen der Verteidiger, Dr. h. c. Gerhard Strate als Wahlverteidiger und Peter Tuppat aus Jena als Pflichtverteidiger, bringen auch sie noch in den Saal. Eine Frau läuft barfuß durch Saal und Gänge – so etwas habe er am BGH noch nicht gesehen, sagt ein Richter. Die Verteidiger ziehen ihre Roben an und wieder aus, doch schließlich sind rund 85 Zuschauer im Saal, zusätzlich Presse und Richter:innen vom BGH. Gegen 11.45 Uhr wurde es ganz plötzlich ruhig. Es ging los.
Ein Richter mit einem Ziel
Der Berichterstatter des 2. Strafsenats des BGH unter Vorsitz von Dr. Eva Menges, Claus Zeng, fasste die Erkenntnisse des LG Erfurt zusammen: die jahrzehntelange Tätigkeit von D. als Familienrichter. Wie er spätestens im Frühjahr 2020 begann, an Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen teilzunehmen, Mitglied der damals gegründeten Vereinigung Kritischer Richter und Staatsanwälte wurde und im Februar 2021 entscheid, dass er exemplarisch Schulen die Schutzmaßnahmen gegen Corona-Infektionen untersagen müsse. Es sei ihm um das Kindeswohl gegangen und darum, den Argumentationsdruck für andere Gerichte zu erhöhen, sie hätten sich kritischer mit den Maßnahmen befassen sollen, habe D. erreichen wollen.
D. informierte die Gruppe der Corona-Kritiker bewusst über seine Zuständigkeiten nach dem Geschäftsverteilungsplan, suchte ergebnisorientiert nach Gutachtern, die seine Sicht auf die Dinge teilten. Er überarbeitete selbst den Antrag auf Einleitung eines Verfahrens wegen Kindeswohlgefährdung, der erst in der überarbeiteten Form anhängig gemacht wurde – und den er dann selbst beschied. Das LG nannte das "zielgerichtete Planung", mit der D. das Kindeswohlverfahren selbst vorbereitet habe. Unüblich lange 192 Seiten umfasste letztlich der Beschluss, davon fielen 174 auf die Aussagen der Sachverständigen und Gutachten über die Corona-Maßnahmen aus. In dem Verfahren kam D. konsequent zu der Auffassung, die Maßnahmen seien schädlich für die Kinder, die PCR-Tests ungeeignet und die dies vorgebende landesrechtliche Regelung verfassungswidrig.
Der Mann habe die richterliche Neutralitätspflicht verletzt, indem er das Verfahren initiierte, es führte und die Entscheidung traf, so das LG – ohne seine Befangenheit mitzuteilen, §§ 48 Zivilprozessordnung (ZPO), § 6 Abs. 1 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG).
Verteidigung plädiert auf Freispruch
Danach ist die Verteidigung dran. Anwalt Strate argumentierte: Sein Mandant sei unschuldig. Er habe sich die Zuständigkeit für das Verfahren nicht angemaßt. In der Norm zum Verfahren bei Kindeswohlgefährdung, § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), heiße es, der Familienrichter dürfe auch Maßnahmen gegenüber Dritten aussprechen. Doch wer Dritter sei, das sei kaum behandelt, auch nicht in den Kommentaren und der Literatur zur Norm. Aus Art. 6 des Grundgesetzes (GG) folge zudem das Wächteramt des Staates gegenüber dem Kindeswohl – D. habe also aktiv werden müssen, so der Verteidiger. Außerdem sei erwiesen, wie schädlich und nicht zielführend die Maßnahmen für die Kinder gewesen seien, D. habe also sogar materiell richtig gehandelt, betonte Strate. Das aber habe das LG Erfurt gar nicht berücksichtigt. Der Richter sei mit seinem Verhalten "nicht zu weit gegangen", so der Verteidiger. Er beantragte die Aufhebung des Erfurter Urteils und Freispruch.
Mehrfach quittieren Zuschauer seine Ausführungen mit Lachen und zustimmenden Ausrufen: "Ja!", "Genau!", "Recht so!".
Eingreifen musste die Vorsitzende aber erst bei den Ausführungen von Dr. Tobias Handschell, Vertreter des Generalbundesanwaltes (GBA). Als der sagt, dass es auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen in diesem Falle nicht ankomme, ertönt zu lautes Lachen. "Es geht hier um wirklich wichtige Fragen", sagte die Vorsitzende darauf sehr klar: Sie bat darum, mit Anstand zu handeln, wie es der Würde des Gerichs und der Sache entspreche.
Für den Vertreter des GBA ist der objektive Tatbestand klar erfüllt, die Besorgnis der Befangenheit sei nach den Ausführungen der Erfurter Richter:innen "eindeutig zu bejahen". Ihm reichen der Verfahrensverstoß, das Versagen des rechtlichen Gehörs und die Verletzung der Zuständigkeit für die Annahme einer Rechtsbeugung.
Im selbst fehlen jedoch, so sagte er in der Verhandlung, Ausführungen zu den subjektiven Vorstellungen – denn man muss auch wollen, was man tut, um einen Tatbestand vorsätzlich zu verwirklichen. Es sei daher eine erneute Hauptverhandlung in Erfurt nötig. Auf der anderen Seite habe die Kammer die Einlassungen von D. bei der Strafzumessung als Teilgeständnis bewertet. Diese hätten sich aber nur auf die objektiven Tathandlungen bezogen und könnten daher nicht so bewertet werden. Der GBA-Vertreter beantragte die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des LG Erfurt. Die Revision sei auch aus seiner Sicht also ausdrücklich nicht auf die Strafzumessung beschränkt.
"Es war eine schlimme Zeit"
D. selbst hat – fast – das letzte Wort: "Ich weiß nicht, ob es mir immer gelang, die richtige Entscheidung zu treffen", sagt er. Es sei eine schlimme Zeit gewesen, er sei immer wieder von Eltern angesprochen worden, habe mitbekommen, wie die Kinder unter dem Tragen der Maske gelitten hätten. "Ich sah mich zur Einleitung eines Verfahrens verpflichtet". Er habe die Zuständigkeit geprüft, sich zudem mit Kollegen dazu ausgetauscht, "ich wollte nie das Recht verletzen". Er habe niemandem einen unrechtmäßigen Vor- oder Nachteil verschafft und den Sachverhalt möglichst genau aufgeklärt.
Ob der BGH diesen Ausführungen folgt, wird sich im November zeigen. Der Senat wird seine Entscheidung am 20. November verkünden.
Revisionsverhandlung im Fall des Weimarer Familienrichters: . In: Legal Tribune Online, 28.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55292 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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