Benjamin Ferencz war Chefankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess und setzte sich vehement für den IStGH ein. Nun wird er von der Universität Köln ausgezeichnet – zur dortigen Jurafakultät hat er eine besondere Verbindung.
Die Fotos aus dem Nürnberger Gerichtssaalsind zu Bildern der Zeitgeschichte geworden: Ein schmaler Mann in einem dunklen Anzug, jung, hohe Stirn, hinter einem Holzpult, das ihm bis zur Brust reicht. Die Hände hat er darauf abgelegt, den Blick richtet er nicht auf seine Papiere vor sich, sondern in den Saal. Der Mann ist Benjamin Ferencz, der Gerichtssaal ist der Schwurgerichtssaal 600 im Nürnberger Justizpalast. Vom 15. September 1947 bis zum 10. April 1948 fand dort der Einsatzgruppen-Prozess statt, das neunte von zwölf Verfahren, die auf den Hauptkriegsverbrecherprozess folgten, der offizielle Titel: "United States of America vs. Otto Ohlendorf, et. Al." Ferencz war der Chefankläger. Angeklagt waren im Einsatzgruppen-Prozess 24 SS-Führer.
Heute ist Ferencz eine Ikone des internationalen Völkerrechts, es gibt Filme, Bücher und unzählige Interviews über sein Lebenswerk. Zuletzt erschien sein Buch "Sag immer deine Wahrheit - Was mich hundert Jahre Leben gelehrt haben" auf Deutsch, aufgeschrieben von der Guardian-Journalistin Nadia Khomami. Ferencz war als Soldat am D-Day dabei, hat in den Konzentrationslagern Beweismaterial für die Nazi-Verbrechen gesammelt, im Einsatzgruppen-Prozess nicht nur die Chefanklage übernommen, sondern das Verfahren überhaupt erst angestoßen, er hat später an der Jewish Claims Conference teilgenommen, um Entschädigungszahlungen für jüdische Überlebende und Hinterbliebene zu erreichen, arbeitete als Anwalt und er setzte sich jahrzehntelang unermüdlich für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag ein.
Am Donnerstag wird Ferencz von der Universität Köln die Ehrendoktorwürde verliehen – der Festakt findet coronabedingt virtuell statt. "Man braucht eigentlich nicht zu erklären, warum man Benjamin Ferencz auszeichnet", sagt Prof. Dr. Claus Kreß, der an der Kölner Universität Strafrecht und Völkerrecht lehrt. "Aber viele wissen nicht, dass gerade die Geschichte der rechtswissenschaftlichen Fakultät hier in Köln in besonderer Weise mit den Nürnberger Prozessen verbunden ist."
Die Nürnberger Prozesse: "Umstürzend neu"
Kreß kennt Ferencz seit vielen Jahren von den Verhandlungen zum IStGH. Wenn er über die Verbindungen von Ferencz nach Köln spricht, beginnt er bei drei anderen Namen: Hans Kelsen, Carl Schmitt und Hermann Jahrreiß. Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen war von 1930 bis 1933 Professor für Völkerrecht an der Universität Köln – dann wurde von seinem Lehrstuhl vertrieben, weil er Jude war und weil seine demokratischen Ansichten den Nationalsozialisten nicht passten. Die Fakultät verfasste eine Petition zu seinen Gunsten, der einzige Rechtsprofessor, der die Unterschrift verweigerte: Carl Schmitt, der später nach Berlin ging und sich den nationalsozialistischen Machthabern andiente. Hermann Jahrreiß wurde 1937 der Nachfolger Kelsens und später – 1956 – Rektor der Universität Köln.
Die Wege dieser drei Völkerrechtler trafen sich in Nürnberg wieder: 1945 hilft Kelsen der US-Regierung, einen ersten Entwurf für das Londoner Statut zu entwerfen, das die Grundlage für den Internationalen Militärgerichtshof enthielt – das Nürnberger Tribunal. Schmitt dagegen schreibt an einem Rechtsgutachten für den Großindustriellen Friedrich Flick, der befürchtete, von den Alliierten angeklagt zu werden – dazu kam es allerdings nicht. Schmitt verfasste ein Gutachten, dessen Aussagen über den Fall Flick hinausgingen. Jahrreiß wird im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als einer der Verteidiger von Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabs im Oberkommando der Wehrmacht, ein viel beachtetes Plädoyer halten.
Über die Vorschriften des Londoner Statuts sagt Jahrreiß in seiner Rede "Sie nehmen das Recht eines Weltstaats voraus. Sie sind revolutionär. Vielleicht gehört ihnen im Hoffen und Sehnen der Völker die Zukunft." Aber, so Jahrreiß, sie seien "umstürzend neu" und daher "Strafgesetze mit rückwirkender Kraft". Vielleicht war dieses Plädoyer nicht nur Jahrreiß', sondern auch Schmitts Werk: "Wir wissen es nicht genau, aber es ist sehr gut möglich, dass Jahrreiß Schmitts Gutachten kannte und sich daran orientiert hat", so Kreß.
Die Initiative, Ferencz die Ehrendoktorwürde zu verleihen ging von Kreß’ Kölner Völkerrechtskollegen Stephan Hobe aus, der den Vorschlag zusammen mit Kreß und Angelika Nußberger, ebenfalls Rechtsprofessorin in Köln, einbrachte. "Dass wir nun Benjamin Ferencz auszeichnen, verstehe ich auch als ein Zeichen der Kölner Fakultät, dass die Rolle von Jahrreiß nicht die einzige sichtbare Verbindung zu den Nürnberger Prozessen bleibt", betont Kreß.
Auf dem Weg zum IStGH
Ferencz war nicht im Hauptkriegsverbrecherprozess Ankläger, sondern im später folgenden Einsatzgruppen-Prozess. Er stand aber schon damals, und sein ganzes Leben lang, auf Seiten der "revolutionären" Völkerrechtler, die das internationale Recht dazu einsetzen wollten, Krieg zu verhindern. Die Nürnberger Prozesse standen am Anfang eines solchen neuen Verständnis des Völkerrechts.
"Als Benjamin Ferencz als junger Jurist Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht brachte, ging es ihm nicht nur darum, diejenigen zu verfolgen, die Recht gebrochen hatten. Er verfolgte diejenigen, die Krieg für ein legales und allgemein anerkanntes Mittel hielten, um ihre Konflikte zu lösen", sagt Scott Shapiro, Professor für Recht und Philosophie an der Yale Law School gegenüber LTO. Für Ferencz sollte das zu einer lebenslangen Mission werden, so Shapiro: "Er hat sein Leben dem Frieden gewidmet und der Aufgabe das Recht, nicht den Krieg, als den einzigen hinnehmbaren Weg zu etablieren, um Konflikte zu lösen."
Ferencz schrieb, agitierte und kämpfte für einen Internationalen Strafgerichtshof. Er war eng befreundet mit dem Diplomaten Hans-Peter Kaul, der sich innerhalb der Bundesregierung sehr für einen Internationalen Strafgerichtshof einsetzte. 1998 war es so weit, das "Römische Statut", die Grundlage des IStGH wurde verabschiedet, 2002 trat das Statut in Kraft und der IStGH nahm seine Arbeit auf. Kaul wurde später der erste deutsche Richter am IStGH. Ferencz hielt im Verfahren gegen den kongolesischen Warlord Thomas Lubanga auf Einladung des damaligen Chefanklägers ein Plädoyer vor dem IStGH in Den Haag. Kaul wurde 2008 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Köln ausgezeichnet – die Gastrede hielt Benjamin Ferencz.
Veränderungen, die länger dauern als eine Lebenszeit
Der IStGH ist umstritten, er gilt als zu einseitig und als wenig wirkmächtig. Inzwischen sind mehrere afrikanische Staaten ausgetreten und auch Russland, das das Statut unterschrieben, aber nie ratifiziert hatte, hat sich zurückgezogen. Die USA lehnen den IStGH bis heute ab. Ferencz kritisierte das immer wieder. Seit 2018 kann der IStGH nicht nur Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden, sondern auch das Verbrechen der Aggression. Erstmals können damit Verursacher eines Angriffskriegs völkerstrafrechtlich verfolgt werden.
Ferencz ist seinem Ziel, "Recht statt Krieg" ein Stückchen nähergekommen. Erreicht hat er es noch nicht: "Als ich meinen Kampf für die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs begann, war mir vollkommen bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht mehr miterleben werde, wie er reibungslos funktioniert", so Ferencz in seinem aktuellsten Buch. Eine Lebensspanne reiche nicht aus, dieses Ziel zu erreichen.
Das scheint zu gelten, selbst wenn es eine so lange Lebensspanne ist, wie die von Benjamin Ferencz und so reich gefüllt. Im Alter von 100 Jahren lebt Ferencz heute im US-Bundesstaat Florida. Es freue ihn sehr, die Ehrendoktorwürde von denjenigen zu erhalten, "die verantwortlich sind, die nächste Generation von Wegbereitern auszubilden", lässt er über seinen Sohn Donald Ferencz gegenüber LTO mitteilen: "In den vergangenen Jahrzehnten haben wir bedeutende Veränderungen – sowohl an der Universität Köln selbst, wie auch in Deutschland als Nation – gesehen: Von äußerst dunklen Tagen der Diskriminierung und Verfolgung zu deutlich helleren Tagen, in denen Deutschland eine Führungsrolle im Streben nach Rechtsstaatlichkeit übernimmt.".
Was seine eigene Rolle in dieser Geschichte angeht, kannte er ohnehin nur den Weg nach vorne, in eine friedlichere Welt, egal wie unerreichbar sie scheinen mochte: "Never give up!"
Ehrendoktorwürde für Benjamin Ferencz: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44241 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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